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9 Stunden Angst

9 Stunden Angst

Titel: 9 Stunden Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Kinnings
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Theaterstück gedrückt.
    »Ergib dich«, sagte Tommy und drehte sich auf dem Fahrersitz um, um ihn offen anzulächeln.
    »Wie meinst du das?«
    »Ergib dich dem Willen Gottes.«
    Als er diese Worte hörte und das Handy mit Headset in Tommys Hand sah, wusste Simeon, dass die heutige Aktion bitterer Ernst war.
    07.06 Uhr
    14 Highfield Road, South Wimbledon
    George schlurfte ins Badezimmer, während Maggie selig weiterschlummerte. Er stand wie immer als Erster auf, um dem Andrang im Bad zuvorzukommen. Prüfend betrachtete er sich im Spiegel. Er war vierzig Jahre alt. Seine Eltern hatten immer gefragt: »Wo ist nur die Zeit geblieben?« Jetzt verstand er endlich, was sie damit gemeint hatten. Der Titel eines Gedichts von Charles Bukowski brachte es auf den Punkt. George hatte das Gedicht zwar nie gelesen, aber auf der Rückseite von Der Mann mit der Ledertasche, einem Bukowski-Roman, den er gerade las, waren weitere Werke des Autors aufgelistet, darunter ein Gedicht namens »Die Tage rennen wie Wildpferde über die Hügel«. Es stimmte, genauso war es. Bukowski hatte den Nagel auf den Kopf getroffen.
    Je älter George wurde, desto emotionaler wurde er. Er brauchte nur eine traurige Filmszene zu sehen oder von einem tragischen Vorfall in den Nachrichten zu hören, und schon füllten sich seine Augen mit Tränen. Vielleicht hatte es mit seiner ersten »Springerin« zu tun – der Selbstmörderin, die kürzlich vor seinen Zug gesprungen war. In seiner Anfangszeit als U-Bahn-Fahrer war er einerseits entsetzt und andererseits fasziniert von dem Gedanken gewesen, dass sich eines Tages jemand vor seinen Zug werfen könnte. Er war ganz sicher nicht auf irgendeinen perversen Nervenkitzel aus gewesen, aber wenn er sich schon damit abfinden musste, dass ihm in seinem Berufsleben etwas so Grausames widerfahren konnte, warum sollte er dem Ganzen dann nicht mit Neugier begegnen? Einige seiner Kollegen waren von dieser Erfahrung vollkommen traumatisiert, anderen schien es weniger auszumachen. George hatte sich oft gefragt, wie er wohl reagieren würde, wenn seine Zeit gekommen war. Denn dass sie kommen würde, war so gut wie sicher. In London ereigneten sich über hundert Fälle pro Jahr. Er hatte sich gefragt, wie es sich wohl anfühlte, jemanden sterben zu sehen. Die meisten U-Bahn-Fahrer, die lange genug dabei waren, erlebten früher oder später einen Selbstmord. Und dann war George selbst an der Reihe gewesen.
    Es war vor sechs Monaten passiert, bei der Einfahrt in den U-Bahnhof Warren Street gegen fünf Uhr nachmittags. Der Bahnsteig war voll gewesen mit den üblichen Pendlern, die vergeblich versuchten, noch vor der Rushhour nach Hause zu kommen. Georges Zug war ungefähr zur Hälfte eingefahren gewesen, als sich eine schick gekleidete Frau Anfang fünfzig aus der gesichtslosen Masse gelöst hatte und von der Bahnsteigkante direkt vor den Zug gesprungen war. Perfektes Timing, das Paradebeispiel eines effizienten Suizids. Ihr Körper war gegen die Spitze des Zuges geknallt und dann unter die Räder gekommen. Sie war sofort tot gewesen. In dieser Hinsicht hatte George Glück gehabt. Und die Frau vermutlich auch, zumindest wenn sie ihren Todeswunsch ernst gemeint hatte, und davon ging George angesichts ihres präzisen Sprungs aus.
    Von Kollegen hatte er gehört, dass die Selbstmörder manchmal nur verletzt wurden und dann unter dem Zug eingeklemmt lagen, was grauenvoll für alle Beteiligten war. Umso dankbarer war er, dass bei »seinem« Selbstmord alles ganz schnell gegangen war – eine echte Gnade, sowohl für ihn als auch für die Springerin.
    George hatte bei der gerichtlichen Untersuchung des Falls als Zeuge aussagen müssen, was ihm schwerer gefallen war als angenommen, vor allem, weil er dabei den trauernden Angehörigen der Frau gegenübertreten musste. Nachdem das Gericht zweifelsfrei Selbstmord als Todesursache festgestellt hatte, war der Ehemann vor dem Gerichtsgebäude auf ihn zugekommen und hatte sich für die Tat seiner Frau entschuldigt. Diese Geste hatte George sehr berührt.
    Er hatte die bezahlte Auszeit beansprucht, die ihm zustand, und sogar das Therapieangebot seines Arbeitgebers angenommen, nicht, weil er wirklich das Gefühl hatte, eine Therapie zu brauchen, sondern weil er neugierig war, ob sie ihm bei der Bewältigung seiner Beklemmungszustände und der damit einhergehenden Schlaflosigkeit helfen konnte. Leider war das nicht der Fall gewesen.
    George genoss es, unter der Dusche den klebrigen Schweißfilm

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