9 Stunden Angst
Uhr
Vor den Toren der Madoc Farm, Snowdonia
Sie waren unterwegs. Der Moment, auf den sie so lange gewartet hatte, war endlich gekommen. Es kribbelte in ihrem ganzen Körper. Sie fühlte sich seltsam berauscht und hatte gleichzeitig das beruhigende Gefühl, alles unter Kontrolle zu haben. Noch nie hatte sie an ihrem Bruder gezweifelt oder einen Grund gesehen, die Legitimität oder Moral ihrer gemeinsamen Mission in Frage zu stellen. Tommy war ein Prophet. Und auch sie war eine Prophetin. Zumindest hatte Tommy das gesagt.
Die Ermordung des alten Mannes hatte ihr gar nicht behagt. Erinnerungen an ihre Eltern waren wieder hochgekommen. Keine schönen Erinnerungen. Aber wenn sie ehrlich war – und das war sie immer, weil Gott ohnehin merkte, wenn sie log –, war sie auch ein wenig stolz auf sich. Sie war stark genug gewesen, hatte den Blick nicht abgewendet. Das bedeutete, dass sie den Aufgaben, die im Laufe des Tages auf sie zukommen würden, problemlos gewachsen sein würde. Ihr Beitrag zu der gemeinsamen Mission hatte ihr in den vergangenen Wochen viel Kopfzerbrechen bereitet. Sie wollte Tommy auf keinen Fall enttäuschen.
Während Tommy seine Tasche in den Kofferraum des Autos lud, das er für diesen Anlass gestohlen hatte, fragte Simeon: »Was ist los? Warum jetzt schon?«
»Nur eine Übung«, antwortete sie. Sie log Simeon nicht gerne an, aber er würde die Wahrheit ohnehin bald herausfinden. Natürlich war es nicht nur »eine Übung«. Warum hätten sie den alten Mann umbringen sollen, wenn es nur eine Übung gewesen wäre? Andererseits wusste Simeon ja nicht, dass Pater Owen tot war. Tommy hatte dafür gesorgt, dass er noch in seinem Zimmer war, während sie sich Pater Owen vorgeknöpft hatten. Simeon blieb keine Zeit, weitere Fragen zu stellen, denn Tommy stieg ins Auto, ließ den Motor an und fuhr los.
Belle fühlte sich an ihre Kindheit erinnert. Als ihre Eltern noch gelebt hatten, hatte die ganze Familie manchmal Ausflüge mit dem Auto unternommen. Damals war ihr egal gewesen, wo es hinging, Hauptsache, sie konnte vom Rücksitz aus die vorbeiziehende Landschaft bewundern. Als sie jetzt neben Tommy saß, der den Wagen durch die walisischen Berge steuerte, spürte sie wieder die gleiche Vorfreude. Ihr Ziel war noch einige Stunden entfernt. Sie konnte die Fahrt also in Ruhe genießen, sicher und wohlbehütet im Auto mit den beiden Männern, die sie am meisten liebte: Tommy und Simeon.
Tommy hatte ihr immer wieder eingebläut, dass sie jeden Zweifel aus ihren Gedanken verbannen musste, was ihr nicht immer leichtfiel. Sie wusste, dass die meisten Menschen keinerlei Verständnis für ihr Vorhaben aufgebracht hätten, doch das hieß nicht, dass sie nicht das Richtige taten. Jesus war auch missverstanden und für seinen Glauben verfolgt worden. Dass man zweifelte und litt, gehörte dazu, aber jetzt, wo sie auf dem Weg nach London waren und das Warten ein Ende hatte, würde ihr Leiden bald vorbei sein.
00.09 Uhr
Madoc Farm, Snowdonia
Varick eilte zurück in sein Zimmer. Die vertraute Umgebung erlaubte es ihm, sich in der fast völligen Dunkelheit zurechtzufinden. Er betrat das Büro neben seinem Zimmer, ging zum Schreibtisch und öffnete die Schublade, aus der er eine große Taschenlampe und einen Smith-&-Wesson-Revolver zog. Noch nie hatte sich das geprägte Schachbrettmuster auf dem Schaft so tröstlich angefühlt. Wie immer stärkte die Waffe seine Entschlusskraft. Er knipste die Taschenlampe an und ging zu Tommys Zimmer, das am anderen Ende des Flurs lag. Die Tür stand offen, und er wusste schon vor dem Eintreten, dass das Zimmer leer war.
Varick ging zu den Regalbrettern über dem Bett, nahm die Schuhkartons herunter, in denen Tommy seine persönlichen Gegenstände aufbewahrte, und kippte den Inhalt aufs Bett. Die Kartons enthielten Briefe, Postkarten, Leichtathletik-Urkunden aus Schulzeiten, Tagebücher, Notizbücher, Computerdisketten und Spielkarten. Varick hatte keine Ahnung, wonach genau er suchte. Während er Tommy Dennings Habseligkeiten durchsah, ging ihm auf, dass er den jungen Mann eigentlich kaum kannte.
Cruor Christi war ein evangelischer Orden, der auch gescheiterte Existenzen willkommen hieß. Varick war selbst eine solche und brachte durch seine Vergangenheit viel Verständnis für andere geplagte Seelen auf. Den psychisch gestörten, aber auch extrem intelligenten Tommy hatte er als sein persönliches Projekt betrachtet. Als der Exsoldat auf Madoc Farm eingetroffen war, hatte er an
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