9 Stunden Angst
eine gespannte Sprungfeder erinnert, doch Varick war von Anfang an überzeugt gewesen, dass er Tommy retten konnte und dass Cruor Christi schaffen würde, woran andere Einrichtungen offensichtlich gescheitert waren. Die Aufgabe, ihn wieder auf den rechten Weg zu führen, stellte sich als mühsam heraus, aber das war ihm von vornherein klar gewesen. Tommys schreckliche Kindheitserlebnisse und seine Zeit als Soldat in Afghanistan hatten ihn gezeichnet, und er wäre mit Sicherheit irgendwann im Gefängnis gelandet, wenn Varick ihn nicht auf der Farm aufgenommen hätte. Owen hingegen hatte geunkt, dass Tommy und seine Schwester Belle, die dem Orden als Erste beigetreten war und ihren Bruder zum Beitritt ermuntert hatte, Madoc Farm eines Tages zum Verhängnis werden würden. Über dieses Thema hatten Owen und Varick mehr als einmal gestritten. Und jetzt sah es so aus, als hätte der alte Mann recht behalten.
Panik ergriff von Varick Besitz, genau wie früher, vor seiner Wiedergeburt. Er warf einen Blick in den Wandspiegel. Bald wurde er fünfzig, und man sah ihm sein Alter an. Doch er war immer noch groß und stark, immer noch fest entschlossen. Er würde tun, was nötig war.
Bruder Varick schloss Bruder Thomas‘ Zimmertür hinter sich und ging wieder den Flur entlang. An Bruder Simeons Tür brauchte er nicht zu klopfen, das verriet ihm eine dunkle Ahnung. Noch bevor der Lichtschein seiner Taschenlampe auf das verlassene Bett fiel, wusste er, dass das Zimmer leer war. Er schloss die Tür und ging weiter zu Schwester Belles Zimmer. Leer. Tommy hatte seine beiden Fußsoldaten mitgenommen.
Varick hörte Geräusche aus den übrigen Schlafräumen. Vermutlich hatte der nächtliche Tumult auch die anderen Brüder und Schwestern geweckt, die nun nach Kerzen und Streichhölzern tasteten. Am Ende des Flurs kniete Bruder Alistair immer noch neben Pater Owens leblosem Körper und schluchzte vor sich hin, wenn auch nicht mehr ganz so laut. Er blickte auf, als Varick näher kam, und sagte: »Tommy ist verschwunden, oder?«
»Ja«, antwortete Varick. »Er ist weg. Alle drei sind weg.«
»Was tun wir jetzt?«
»Wir fahren nach London.« Dieser Satz genügte, um Alistair endgültig zum Verstummen zu bringen. Mit panisch aufgerissenen Augen hörte er sich Varicks Plan an: »Erst geben wir Pater Owen die Letzte Ölung, und dann fahren wir nach London.«
»Ich auch?« Alistair schüttelte den Kopf, als wolle er Varick zu einem Nein bewegen.
»Ja, du auch. Wir müssen Tommy und die beiden anderen finden und sie aufhalten.«
6.45 Uhr
14 Highfield Road, South Wimbledon
George Wakehams Radiowecker ging an, und die Stimme des Radiomoderators erfüllte den Raum. Es war der schottische Moderator mit dem singenden Tonfall. Gut gelaunt berichtete er von den Arbeitskampfmaßnahmen der Gepäckabfertiger in Stansted, durch die sich die Abflugzeiten von Urlaubsreisenden leider verzögerten, von der Umleitung der Buslinie 43 in Muswell Hill, von einem Lastwagen, der bei Acton auf der A40 seine Ladung verloren habe, was Verzögerungen in östlicher Fahrtrichtung mit sich bringe, und von der Sperrung des Strand-Underpass-Tunnels. Außerdem sei der Hangar-Lane-Kreisverkehr »durch die extreme Verkehrsbelastung heillos verstopft«.
»Und jetzt zur U-Bahn …« George spitzte die Ohren. Von den zweihundertfünfundsiebzig U-Bahnhöfen des Netzes war einer wegen Bauarbeiten gesperrt – Southfields auf der District Line – und einer – East Acton auf der Central Line – aufgrund akuten Personalmangels geschlossen. Abgesehen von diesen »wenigen Fliegen in der kollektiven Suppe« gehe alles seinen geregelten Gang, wie der Radiomoderator betonte.
»Allerdings haben die Londoner Verkehrsbetriebe angesichts der für heute angekündigten Temperaturen von über fünfunddreißig Grad eine Reisewarnung herausgegeben: Fahrgäste werden aufgefordert, eine Flasche Wasser mitzuführen, und Personen, die anfällig für hitzebedingte Befindlichkeitsstörungen sind, wird empfohlen, ganz zu Hause zu bleiben.«
Da saß dieser Schotte also in seinem klimatisierten Studio und verkündete beiläufig, dass es der heißeste Tag des Jahres werden würde. Das hatte George gerade noch gefehlt. Er war seit vier Uhr wach. Seine Schlafstörungen hatten keinen besonderen Grund. Einfach nur die ganz normale Paranoia der mittleren Lebensjahre, die einen mitten in der Nacht anstupste und nervte, bis an Schlaf nicht mehr zu denken war.
Die Sonne brannte bereits jetzt
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