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9 Stunden Angst

9 Stunden Angst

Titel: 9 Stunden Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Kinnings
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sein wollten. Sie wollten das einzig wahre Leben führen, hatten es ebenso erwählt, wie sie selbst von Gott erwählt waren. Trotzdem war derart lautes und zügelloses Lachen zu dieser nächtlichen Stunde ungewöhnlich.
    Als Varick schließlich verstand, dass das Geräusch, das er hörte, keineswegs Gelächter war, nahm er die Kerze von seinem Schreibtisch und öffnete die Tür. Während er den Flur entlang auf die Geräuschquelle zuging, schirmte er die Flamme mit der Hand ab.
    Die Türen zu den Schlafräumen waren geschlossen, bis auf eine Tür neben dem Badezimmer, die zu Pater Owens Zimmer führte. Doch das Geräusch kam nicht von dort, sondern aus dem Bad, wo Bruder Alistair neben der Badewanne kniete. Er schien sich in einem Zustand der Hysterie zu befinden, denn Tränen strömten ihm über die Wangen, und er stieß mit verzerrtem Mund das Geräusch aus, das Varick fälschlicherweise für Gelächter gehalten hatte.
    Er wollte Alistair gerade auf die Beine zerren und mit einer Ohrfeige wieder zur Besinnung bringen, als sein Blick auf die Badewanne fiel. Zitternd und nackt, die knotigen Hände um den Badewannenrand gekrallt, als versuche er, sich am Leben festzuklammern, lag dort Pater Owen, aus dessen Kehle der Griff eines Tranchiermessers ragte. Das Badewasser hatte die Farbe von Roséwein angenommen.
    Varick fiel die Kerze aus der Hand und erlosch. Die einzige Lichtquelle waren nun die Kerzen, die nebenan in Owens Zimmer brannten. Varick schlang die Arme um den gütigen alten Mann, der ihn aufgenommen und gerettet hatte, als er am Ende gewesen war, und hievte ihn aus der Badewanne, bevor er ihn im Flur auf den Steinboden legte.
    »Wer hat dir das angetan?«, fragte Varick. Auf dem Flur war das Licht besser, und er konnte erkennen, dass der alte Mann ihm etwas zu sagen versuchte. Aber der einzige Laut, den er herausbrachte, war ein schwaches Pfeifen, das aus der Wunde an seinem Hals drang. Seine Zunge bewegte sich heftig und brachte das Blut in seinem Mund zum Schäumen. Owen unternahm noch einen zweiten Versuch zu sprechen, bevor sein Körper erschlaffte und sein Kopf zurück auf den Boden fiel. Die Blutblasen, die sich um den Messergriff in seiner Kehle gebildet hatten, platzten. Der alte Mann hatte sein Leben ausgehaucht.
    »Wer kann etwas so Grausames getan haben?«
    Alistair hielt mit seinen Klagelauten lange genug inne, um Varick zu antworten: »Tommy.«
    Varick hatte Mühe, diese Aussage zu verarbeiten. Das Unbehagen, das ihn schon den ganzen Tag geplagt hatte, manifestierte sich plötzlich gestochen scharf. Tommy – natürlich. So etwas konnte nur Tommy getan haben. Am Vortag hatte Varick gerade ein Beet im Gemüsegarten ausgehoben, als Pater Owen zu ihm getreten war, um ihm mitzuteilen, dass er auf etwas »Erschütterndes« gestoßen sei, wie er es ausdrückte. Tommys Verhalten hatte Pater Owen schon länger Sorgen bereitet, und so hatte er etwas getan, was Varick nicht guthieß: Er hatte das Zimmer des ehemaligen Soldaten durchsucht und dort ein Notizbuch gefunden, in dem der junge Mann seinem wachsenden Verdruss über seinen Glauben und den Zustand der Welt Ausdruck verlieh. Daran war nichts Ungewöhnliches; vor allem die jüngeren Mitglieder von Cruor Christi waren nicht immer mit sich und ihrem Glauben im Reinen. Aber dann hatte Owen etwas in dem Notizbuch gelesen, was ihn in Angst und Schrecken versetzte, und er war zu Varick geeilt, um ihn darüber zu informieren. Varick, der von der schweren Gartenarbeit in der grellen Sonne erschöpft gewesen war, hatte dem alten Mann verärgert mitgeteilt, dass er sein Eindringen in Tommys Zimmer und sein Herumschnüffeln in dessen Tagebuch für einen Fehler hielt.
    »Weißt du, wo Tommy jetzt ist?«
    »Ich habe ihn wegrennen hören«, antwortete Alistair, der immer noch heftig schluchzte. »Und er war nicht allein.«
    Das war die letzte Bestätigung, die Varick brauchte. Jetzt, da Pater Owen tot war, lag die Verantwortung für die Zukunft der Glaubensgemeinschaft in seinen Händen. Er wusste, wo Tommy hinwollte, schließlich hatte der junge Mann alle Einzelheiten seines Vorhabens in seinem Notizbuch notiert. Wenn Tommy seinen Plan ernsthaft in die Tat umsetzen wollte – und der Mord an Owen deutete darauf hin –, war das weit mehr als ein Angriff auf Cruor Christi. Tommys Hass richtete sich gegen jeden, der den Wahnsinn seiner hochfliegenden Pläne nicht teilte. Varick wusste, was das alles zu bedeuten hatte: Gott wollte ihn auf die Probe stellen.
    00.07

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