9 Stunden Angst
U-Bahn geworden.
Anfangs war ihm alles neu und aufregend vorgekommen. Er hatte das Gefühl gehabt, sich von seinen Mittelschichtswurzeln befreit zu haben, um Seite an Seite mit dem »einfachen Volk« zu arbeiten. Das entsprach den sozialistischen Idealen, die er am College für sich entdeckt hatte, bevor er das Studium nach ein paar Semestern Psychologie wieder hingeschmissen hatte. Als frischgebackener U-Bahn-Fahrer war er sofort der Gewerkschaft beigetreten und zu einigen Versammlungen gegangen, um sich in der Politik zu versuchen, hatte jedoch bald festgestellt, dass er zu schüchtern und zurückhaltend war, um sich gegen die anderen Gewerkschaftsvertreter behaupten zu können. Nicht umsonst sangen The Smiths von den Zielen, die man sich durch Schüchternheit verbauen konnte.
All die Musik, die er im Laufe der Jahre gehört hatte, all die Platten, die er immer noch kistenweise besaß … Platten von Bands, die für Integrität, Leidenschaft und Feuer standen und zu einem gerechteren Leben aufriefen, an das er als junger Mann fest geglaubt hatte. Und jetzt standen diese Kisten ganz hinten im Regal auf dem Treppenabsatz. Rebellion gerät nun mal zur Nebensache, wenn man Vorratspackungen Pampers unterbringen muss. Seltsam, wie das Leben die Kanten des eigenen Idealismus abschliff. Eben war man noch ein junger Mann mit stacheligen Haaren und schwarzen Klamotten, dessen Streben nach Coolness genauso ernst gemeint war wie der Haarschnitt, und im nächsten Moment fand man sich als übergewichtiger Vater mit Geheimratsecken und einer furchteinflößend hohen Hypothek wieder.
George träumte immer noch davon, sich künstlerisch zu verwirklichen. Er wollte immer noch der Typ sein, der plötzlich einen Bestseller schrieb (Das Buch ist echt gut! Wusstest du, dass der Autor früher U-Bahn-Fahrer war?) . Oder Gitarrist einer erfolgreichen Band (Wusstet ihr, dass er früher U-Bahnen gelenkt hat?) . Er wollte alles sein, nur nicht George Wakeham, Zugführer.
Als Maggie noch für die Agentur in Soho gearbeitet hatte, war er manchmal mit ihr zu Theaterpremieren gegangen. Dort waren sie alle aufgetaucht, die Komiker, Fernsehgrößen, Prominenten, auch solche, die begierig Einladungen zur x-ten Musicalpremiere des Jahres annahmen, nur um ihr Gesicht in die Kameras halten zu können. Er hatte sich eingeredet, dass tief in ihm drin mehr Talent schlummerte als in all diesen Leuten zusammen. Er musste nur endlich ein Ventil dafür finden. Dass sein Streben nach künstlerischem Erfolg allein dazu diente, seine Eitelkeit zu befriedigen, war ihm insgeheim klar, und dennoch wuchs in ihm die Angst, dass er seine Zeit und sein Potenzial vergeudete, indem er den ganzen Tag U-Bahn fuhr.
Hätte er sein Leben doch nur akzeptieren können wie die anderen Zugführer und U-Bahn-Mitarbeiter. Das hätte alles viel leichter gemacht. Aber er konnte es einfach nicht. Vielleicht ging es seinen Kollegen ja genauso, und sie wollten es nur nicht zugeben. Wie deprimierend. Er beneidete Menschen, die Spaß an ihrer Arbeit hatten, denen ihr Job reichte, die glücklich waren. Es hatte Zeiten gegeben, in denen er das U-Bahn-Fahren für eine Übergangslösung gehalten hatte, einen reinen Broterwerb, während er weiter seine Laufbahn als Künstler verfolgte. Inzwischen war er längst nur noch U-Bahn-Fahrer, sonst nichts.
Die roten Leuchtdioden des Radioweckers rissen ihn aus seinen Gedanken. Es war Zeit, die Kinder zu wecken. Er zerrte an dem klammen Laken, das sich um seine Taille gewickelt hatte, aber er lag darauf und hielt es mit seinem Gewicht fest. Einen Moment lang verspürte er einen Anflug von Klaustrophobie, bevor er es schaffte, sich zu befreien.
Manchmal hatte er tagelang Ruhe vor seiner Platzangst, bis er wieder mitten in einem Tunnel an einem Haltesignal stehen bleiben und minutenlang warten musste. In solchen Momenten brach ihm der kalte Schweiß aus. Er wusste, dass er in ernsthafte Schwierigkeiten geraten würde, falls er einmal mehr als ein paar Minuten zum Stillstand gezwungen sein würde.
Solange der Zug in Bewegung war, war alles in Ordnung. Dann wurde die Tatsache, dass sein Arbeitsplatz eines der tiefsten und engsten U-Bahn-Netze der Welt war, völlig unbedeutend. Wenn er hingegen bewegungslos in einem Tunnel verharren musste, war es aus mit dem Gleichmut. Alle zwei bis drei Monate gab es eine längere Verzögerung. Meist waren es nur fünf oder sechs Minuten, damit konnte er umgehen. Er fühlte sich dann zwar elend, hatte sich aber
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