9 Stunden Angst
10.02 Uhr
Tunnel zwischen den U-Bahnhöfen Leicester Square und Tottenham Court Road
Glen hörte leise Stimmen, die vom Zug herüberdrangen, vermutlich Fahrgäste, die sich unterhielten. Schweiß rann ihm übers Gesicht, und sein Herz pochte gegen sein Brustbein. Denk an deine Ausbildung. Dieser Satz, den ihm seine Ausbilder immer wieder eingebläut hatten, war wie ein Mantra. Wenn du deine Ausbildung nicht vergisst, kann dir nichts passieren. Als CO 19-Polizist stand er an vorderster Front einer der weltweit besten Spezialeinheiten. Aufgrund einiger öffentlich bekannt gewordener Fehler hatte der Ruf der Elitetruppe in letzter Zeit gelitten, aber auch die Medien hatten ihren Teil dazu beigetragen, indem sie die Erfolge der Einheit heruntergespielt hatten. Glen war stolz darauf, Mitglied von CO 19 zu sein, stolz darauf, dass er die psychologischen Tests bestanden hatte und zu einem achtwöchigen Ausbildungslehrgang am Trainingszentrum der Metropolitan Police eingeladen worden war, um dort Kenntnisse über Schusswaffen, Stürmung von Gebäuden, Abseiltechniken, Zugriffsmethoden, Rettungsmaßnahmen und drohende Terrorangriffe zu erwerben. Sein Kollege Rob war einer der besten CO 19-Polizisten des Landes, und dass er, Glen, dazu auserwählt worden war, ihn auf diesen Einsatz zu begleiten, musste doch wohl bedeuten, dass auch er bei den Vorgesetzten hohes Ansehen genoss.
Aus seinem Headset drang eine Stimme. »Könnt ihr irgendwas sehen?«
»Nichts«, antwortete Rob.
»Okay, dann rückt weiter vor und haltet mich auf dem Laufenden.«
Rob stand als Erster auf und schlich an Glen vorbei, der ihm folgte und die Neun-Millimeter-Glock-17 dabei auf den Zug richtete. Das Vorrücken war zwar noch nicht der gefährlichste Teil ihrer heutigen Mission, aber unangenehm. Sie hatten sich aus ihrer Deckung begeben und näherten sich einem statischen Ziel. Zum Glück war die Dunkelheit, die im Tunnel herrschte, auf ihrer Seite, genau wie die Tatsache, dass sie sich an den Seitenwänden des Tunnels entlangschleichen konnten. Es war unwahrscheinlich, dass sie auf diese Entfernung von einem Nachtsicht-Zielfernrohr erfasst würden. Glen sah, wie Rob wenige Meter vor ihm in die Hocke ging, und tat es ihm nach, wobei er darauf achtete, nicht die Stromschiene zu berühren.
»Okay, wir haben uns jetzt auf etwa sechs bis sieben Meter genähert«, sagte Rob in das Mikro seines Headsets. »Alles ist still, es bewegt sich nichts.« Genau in diesem Moment bewegte sich doch etwas. Vor dem hintersten Waggon des Zuges blitzte ein Licht auf, dann war ein gedämpfter Knall zu hören. Glen spürte, wie Kieselsteine und eine warme Flüssigkeit auf sein Gesicht spritzten. Erst als er zu Rob hinübersah, wurde ihm klar, was passiert war. Das rechte obere Viertel seines Kopfes fehlte, und aus dem ausgefransten Rand, den die zertrümmerten Knochenfragmente und Hirnreste bildeten, schoss eine Blutfontäne. Robs Beine gaben nach, und er stürzte zu Boden.
»Rob?« Glen hatte keine Ahnung, warum er ihn überhaupt ansprach. Rob konnte ihn nicht mehr hören.
»Was ist los?«, fragte die Stimme aus dem Headset.
»Scheiße.« Es war kein Ausruf, sondern eine leise Feststellung. Glen warf einen Blick auf den Zug und fühlte sich auf einmal sehr einsam. Die Verhaltensregeln für Sondereinsätze waren in weite Ferne gerückt. Er wusste genau, was er zu tun hatte, aber ihm war ebenso klar, was dann passieren würde. Dennoch hob er seine Waffe und richtete sie auf den hintersten Waggon, vor dem erneut ein Licht aufblitzte, gefolgt von einem dumpfen Knall. Bevor Glen seinen Schuss abfeuern konnte, wurde die gesamte obere Hälfte seines Kopfes weggesprengt, vom Nasenrücken aufwärts. Er fiel rückwärts auf die Schwellen zwischen den Schienen.
»Ich bitte um Antwort«, drang die gelassene, ausdruckslose Stimme aus den blutigen Überresten der beiden Headsets. Aber niemand hörte sie.
00.04 Uhr (ZEHN STUNDEN FRÜHER)
Madoc Farm, Snowdonia
Das Geräusch, das den Flur entlanghallte, klang wie Gelächter. Varick blickte von seinem Buch auf und blinzelte in die Dunkelheit jenseits des Lichtkegels, den die Kerze auf seinen Schreibtisch warf. Aber warum hätte jemand nach Mitternacht noch so laut lachen sollen? Die Glaubensgemeinschaft Cruor Christi verbot derlei Ausschweifungen nicht, denn sie belästigte ihre Anhänger nicht mit Gesetzen und Vorschriften. Das war auch nicht nötig. Die Brüder und Schwestern, die auf Madoc Farm lebten, waren hier, weil sie hier
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