900 Großmütter Band 2
tun die Arbeit am liebsten eigenhändig. Dieses System bewirkt ständige, allmähliche Verbesserungen. Es gibt mehrere allgemein anerkannte Meisterwerke, die Jahr für Jahr weiterbestehen; aber die gewöhnlichen Arbeiten sind fortwährenden Veränderungen unterworfen. Hier zum Beispiel steht ein Baum, der heute früh noch nicht da war und heute abend hoffentlich auch nicht mehr da sein wird. Ich bin überzeugt, daß jemand von euch einen besseren Baum entwerfen kann.«
»Das kann ich«, sagte Miss Holly, »und ich wer de es heute noch tun.«
Wir schritten aus dem Dächer-Park in die Unterstadt von Camiroi-City hinab und gingen zum Archiv.
»Haben Sie sich inzwischen ein neues Gesetz ausgedacht?« fragte Miss Dia, als wir vor dem Archiv standen. »Wir erwarten von so neuen Bürgern nicht unbedingt etwas Brillantes, aber wir müssen Sie doch bitten, daß es nicht allzu blöd wird.«
Unser Führer, Charles Chosky, richtete sich zu voller Größe auf und sagte:
»Wir verkünden ein Gesetz, wonach auf dem Planeten Camiroi eine permanente Gruppe konstituiert wird, die alle zufällig und übereilt gebildeten ad-hoc-Gruppen erfaßt, beaufsichtigt und Regeln für dieselben ausarbeitet, um besagte Gruppen verantwortlicher zu machen, und die einmal im Jahr einen ausführlichen kritischen Rechenschaftsbericht über diese Gruppen erstellt.«
»Hast du?« fragte Miss Dia einen Apparat im Archiv.
»Ich hab’s«, antwortete der Apparat. Seine Eingeweide mahlten, und er spuckte das neue Gesetz aus. Es war in Bronze graviert und wurde in einer Gesetzesnische aufgestellt.
»Das Echo ist betäubend«, sagte unsere Miss Holly und tat so, als ob sie horche.
»Ja. Was ist denn nun der Effekt unserer gesetzgeberischen Tätigkeit?« fragte ich.
»Oh, das Gesetz ist nunmehr rechtskräftig«, sag te der junge Nautes. »Es ist gewogen und in den Corpus juris aufgenommen. Es wird bereits in den Vor schriften berücksichtigt, die der Richter, der in Kür ze seine Sitzung eröffnet (normalerweise macht jeder Bürger eine Stunde pro Monat Dienst als Richter), vor Beginn der Verhandlung durchsehen muß. Möglicherweise wird er in dieser Sitzung jemanden, der eines leichten Vergehens für schuldig befunden wurde, dazu verurteilen, zehn Minuten über das Problem nachzudenken und Ausführungsbestimmungen dazu zu erlassen.«
»Aber was geschieht, wenn eine Bürgergruppe ein ausgesprochen blödes Gesetz verkündet?«
»Das kommt oft vor. Eine hat es soeben getan. Doch ein solches wird schnell genug außer Kraft gesetzt werden«, sagte Miss Dia, die Camiroitin. »Jeder Bürger, der für drei Gesetze mitverantwortlich gezeichnet hat, die nach allgemeiner Ansicht ausgesprochen blöd sind, verliert sein Bürgerrecht für ein Jahr. Ein Bürger, der sein Bürgerrecht zweimal verliert, wird mit Verstümmelung bestraft, und beim drittenmal wird er getötet. Das ist keine allzu harte Regelung. Bis es soweit ist, war er an neun blöden Gesetzen beteiligt. Das reicht doch wirklich.«
»Aber in der Zwischenzeit bleiben die dummen Gesetze in Kraft?«
»Das ist unwahrscheinlich«, sagte Sideki. »Ein Gesetz wird auf folgende Weise außer Kraft gesetzt: Jeder beliebige Bürger kann ins Archiv gehen und jedes beliebige Gesetz aufheben lassen, wobei er die Erklärung abgeben muß, daß er das Gesetz aus persönlichen Gründen abgeschafft hat. Er muß dann das ungültig gewordene Gesetz drei Tage lang in seiner Wohnung aufbewahren. Manchmal kommt dann der Bürger, oder kommen die Bürger, von dem oder von denen das Gesetz stammt, in das Haus des Betreffenden, der es außer Kraft gesetzt hat. Es kommt vor, daß sie ein Duell mit Ritualschwertern auf Leben und Tod austragen; aber in den meisten Fällen werden sie verhandeln. Entweder einigen sie sich auf die Aufhebung des Gesetzes, oder auf seine Wiederinkraftsetzung. Oder sie arbeiten miteinander ein neues Gesetz aus, das die gegen das alte erhobenen Einwände berücksichtigt.«
»Dann ist also jedes Gesetz auf dem Camiroi von jeder zufälligen oder mutwilligen Opposition abhängig?«
»Nicht ganz«, sagte Miss Dia. »Ein Gesetz, das neun Jahre lang unangegriffen und unaufgehoben bleibt, gilt als privilegiert. Ein Bürger, der ein solches Gesetz aufzuheben wünscht, muß nicht nur seine Erklärung hinterlegen, sondern auch drei Finger seiner rechten Hand, als Beweis dafür, daß es ihm mit der Sache ernst ist. Aber ein Richter oder Bürger, der das Gesetz wieder in Kraft setzen will, hat nur einen seiner
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