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99 Särge: Roman (German Edition)

99 Särge: Roman (German Edition)

Titel: 99 Särge: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Xiaolong Qiu
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brauchen also keine Bedenken zu haben, dass es nicht frisch sein könnte.«
    »Vielen Dank, Krebs in Reiswein ist das Lieblingsgericht meiner Mutter.«
    »Warum bringen Sie es ihr dann nicht mit. Das Fräulein hat sicher ein Behältnis für Sie«, schlug Lianping vor.
    »Gute Idee. Ich selbst meide rohe Meeresfrüchte«, entgegnete Chen, und, an die Bedienung gewandt, sagte er: »Lassen Sie sich Zeit mit den Hauptgerichten.«
    »Kein Problem, wir packen Ihnen das Krebsfleisch später zum Mitnehmen ein«, sagte die Bedienung. »Jetzt ist es sieben Uhr, bitte melden Sie sich, wenn wir die Hauptgerichte zubereiten sollen.«
    Damit schloss sie die Tür hinter sich.
    Draußen am Bund flammte ein funkelnder Lichterglanz auf. Die Wolkenkratzer am gegenüberliegenden Ufer projizierten mit ihren ständig wechselnden Lichtreklamen verführerische Träume von einem neuen Jahrhundert auf das glitzernde Wasser.
    »Wirklich köstlich!«, seufzte Lianping. »Keine Ahnung, wie lange man braucht, um einen Krebs so herzurichten.«
    »Kennen Sie übrigens den Internetwitz über die Flusskrebse? Das Zeichen für ›Flusskrebs‹ hat im Chinesischen ja dieselbe Silbe wie das für ›Harmonie‹. Wenn ein Beitrag im Netz zensiert wird, sagt man auch, er wird ›harmonisiert‹, also im Sinne einer ›harmonischen Gesellschaft‹ aus dem Netz entfernt. Inzwischen heißt es nur noch: Mein Beitrag wurde ›geflusskrebst‹.«
    »Ja, die Konnotationen sind eindeutig negativ, denken Sie nur an den idiomatischen Ausdruck ›ein Bündel Krebse‹.«
    »Auf jeden Fall hat Gu sich nach Kräften bemüht, Ihnen Spezialitäten aus Shaoxing vorzusetzen«, sagte sie und griff sich mit schlanken Fingern ein Krebsbein. »Aber Sie sagten vorhin, Ihre Ermittlungen seien noch nicht abgeschlossen.«
    »Erinnern Sie sich noch an den zweiten Hinweis in Weis Telefongespräch mit Parteisekretär Li?«
    »Sie meinen den geplanten Besuch in der Redaktion der Wenhui ?«
    »Ja. Seine Frau hat mir erzählt, dass er sich das Foto von Zhou sehr genau angesehen hatte, bevor er an jenem Morgen aufbrach. Für die Innere Sicherheit stand das Bild im Fokus des Interesses, und in gewisser Weise auch für Jiang. Ich meinerseits kann nur Vermutungen anstellen.«
    »Also?«
    Chen nahm sich von dem goldgelben Krebsrogen, der in Form von zierlichen Chrysanthemenblüten auf der weißen Platte angerichtet war. Er schmeckte köstlich, genau wie Chen es von früher kannte. Dennoch, dies war für ihn kein Abend für kulinarische Freuden.
    In der Ferne heulte eine Sirene auf, ihr schriller Klang hallte über das dunkle Wasser.
    »Die Sache beruht nicht nur auf Spekulation und betrifft womöglich auch Personen, die Sie und ich gut kennen. Dennoch möchte ich Ihnen heute Abend davon erzählen – und zwar nicht als Polizist.«
    »Sie machen es aber spannend«, sagte sie unsicher.
    »Ich habe Ihnen ja schon erklärt, wie lästig es bisweilen sein kann, wenn man in seiner professionellen Rolle feststeckt. Viel interessanter wäre es, wenn wir für den Augenblick einmal etwas anderes probierten, zum Beispiel Geschichten zu erzählen.«
    »Geschichten erzählen?«, fragte sie überrascht und ein wenig verunsichert. Worauf wollte dieser rätselhafte Oberinspektor hinaus?
    »Erinnern Sie sich noch daran, wie Sie mir vorschlugen, für die Wenhui ein Gedicht aus einer anderen Perspektive zu schreiben? In eine andere Person zu schlüpfen hat mir schon bei manchem Gedicht geholfen. Es ist ein Jammer, dass ich nicht mehr Zeit zum Schreiben habe.« Chen goss sich eine weitere Schale von dem aromatischen Reiswein ein, der ihm allmählich zu Kopf stieg. Er leerte sie und fuhr dann fort: »Manchmal bezeichnet man in Polizeiberichten Menschen als Max Mustermann oder Erika Mustermann. Und in einigen Romanen aus den Dreißigerjahren wurden Personen nur mit einem Großbuchstaben benannt.«
    »Dann erzählen Sie mir eben so eine Geschichte, wenn Ihnen das lieber ist, Oberinspektor Chen«, sagte sie.
    »Ich werde die dritte Person wählen, das erleichtert das Erzählen. Und Sie dürfen beim Zuhören nicht vergessen, dass es sich um Fiktion handelt. Dann ist der Erzähler nicht in der Pflicht, und dem Zuhörer fällt keine Verantwortung zu. Ich bin jetzt nur Geschichtenerzähler und kein Polizist mit beruflichen Verpflichtungen, Sie Ihrerseits lauschen einem erfundenen Szenario, das Ihren Beruf als Journalistin nicht tangiert.«
    Was immer er zu sagen hatte, Lianping wusste, dass es sie unmittelbar betraf.

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