AAA - Das Manifest der Macht
Zuerst wusste er nicht, wo er sich befand. Nur langsam fiel ihm alles wieder ein. Besser gesagt, es stürzte auf ihn ein und ließ ihn kurz und hastig einatmen. Sein alter Studienkollege, nein, sein Freund Ben war verschwunden. Nicht mehr da. Vielleicht sogar tot. Dabei hatten sie sich doch erst vor kurzem nach langer Zeit wieder getroffen und ihre Freundschaft aufgefrischt. Wenn auch nicht gerade unter den besten Umständen.
Gedankenversunken starrte er zum Hotelfenster, wo das Sonnenlicht hier und da durch die dichten Vorhänge sickerte. Eine Bewegung neben ihm ließ ihn zusammenzucken. Er wandte den Kopf. Neben ihm lag Samantha in tiefem Schlaf.
Erinnerungen anderer Art drängten an die Oberfläche. Sein Blick verklärte sich, als er sich die Ereignisse der vergangenen Nacht in allen Einzelheiten ins Gedächtnis rief.
Wieder blickte er Samantha an, die friedlich neben ihm schlief.
Sie sah so unschuldig aus.
In diesem Moment wusste er es.
Er wusste, dass er sie wollte.
Ganz und gar.
Nicht nur körperlich.
Nein, er wollte sie, als Freundin, als Partnerin und als Frau. Ein wunderbar neues, herrliches Gefühl der Vertrautheit und der Geborgenheit durchströmte ihn. John hatte in den letzten Tagen gelernt, mit allem Möglichen zu rechnen. Dass er sich in all den Turbulenzen und Gefahren ernsthaft verlieben könnte, wäre ihm nie in den Sinn gekommen. Er genoss die wohlige Wärme, die ihn durchströmte, wenn er an Samantha dachte – ohne genau zu wissen, was sie für ihn empfand. Er lächelte und schob dann alle romantischen Gedanken entschlossen zu Seite. Für solche Gedanken war jetzt leider nicht die richtige Zeit. Sie hatten noch etwas zu erledigen. Sie mussten unbedingt herausfinden, wo sich dieser ominöse Schatz der Kommunisten befand, und ob wirklich sein Chef Frank van den Bergh bei allem die Fäden zog.
War er das Oberhaupt der Ersten Internationalen, die von Marx gegründet wurden? Dimitri hatte Frank als Stellvertreter bezeichnet und angedeutet, dass diese verrückte Recherche-Odyssee einzig dem Zweck diene, John zu prüfen. Johns Gedanken kreisten um die Informationen von Dimitri, um historische Daten, um Guy de Levigne und andere Namen. Dabei ließ ihn ein Name heute Morgen nicht mehr los. Ein Name, den er nicht so recht einzuordnen wusste: Frédéric-Auguste Bartholdi. Wieso hatte sich dieser Name in seinem Unterbewusstsein festgebissen und wollte nun mit Macht wahrgenommen werden?
Allen Hinweisen von Guy de Levigne waren sie brav gefolgt, seit Ben den Zeitungsartikel in Paris gefunden hatte.
Ben.
Trauer stieg in John hoch, verstopfte seinen Hals und machte ihm Schwierigkeiten beim Schlucken. Sam und er hatten durch den Schock und die Trauer um sein Verschwinden zueinander gefunden. Sollten sie deshalb ein schlechtes Gewissen haben? Nein, sagte er sich. Das, was letzte Nacht geschehen war, das hatte ohnehin schon die ganze Zeit in der Luft gelegen. Die Sorge um Ben war nur der letzte Auslöser gewesen.
Ben und sein Zeitungsartikel, den sie zunächst für ein Märchen gehalten hatten, an das sie nicht geglaubt hatten! Ben hatte den Artikel als das erkannt, was es war. Eine Enthüllung, die bahnbrechender nicht sein konnte, und zugleich der Beginn einer Schatzsuche, deren Ursprung nicht spektakulärer hätte sein können.
Dieser Zeitungsartikel von 1880 hatte sie zum Markgrafenstein und zu den vergrabenen Notizen von Guy de Levigne geführt. Und das hatte Ben möglicherweise das Leben gekostet. Ein über hundertdreißig Jahre altes Tagebuch war schuld an seinem Tod. John wollte das einfach nicht wahrhaben. Er wollte nicht akzeptieren, dass Ben einfach so verschwunden war, um nie wieder aufzutauchen. Nicht Ben. Nicht ein so sinnloses Ende.
Irgendwo in diesem Tagebuch musste der nächste Hinweis versteckt sein. Dieser Guy konnte doch nicht ein paar wirklich schlaue und perfekt durchdachte Hinweise hinterlassen und dann einfach vor dem letzten entscheidenden Fingerzeig aufhören. Das Tagebuch jedenfalls war ganz gewiss nicht der Schatz der Kommunisten.
Wieder blickte er auf die schlafende Samantha. Die Bettdecke war ein wenig verrutscht und gab den Blick auf ihre wunderschönen Brüste frei. Was scherte ihn der Schatz der Kommunisten, wenn doch sein ganzes Begehren auf die Frau neben ihm gerichtet war? Einen Moment lang überlegte er, ihre Brüste zu streicheln. Nein, entschied er, er ließ sie besser schlafen. Sie hatten später noch alle Zeit der Welt.
Jetzt mussten sie weitersuchen.
Für
Weitere Kostenlose Bücher