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Aasgeier

Aasgeier

Titel: Aasgeier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter J. Kraus
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dreißig Meter hohen Wand bis zu den übermannshohen, die Arme zum Himmel gereckten Joshua Trees, an die nicht nur ich mich erinnerte. Ignacio schaute zu einer Dreiergruppe hinüber, nickte, und sagte, dass wir gleich am Canyon seien.
    „Ich weiß – ich erinnere mich.“
    „Brauchst ja nicht gleich eingeschnappt sein.“
    „Was heißt hier eingeschnappt – ich habe nur gesagt, dass ich mich erinnere.“ Pampig? Na ja.
    „Ich mich auch,“ grinste Ignacio. „Meist abends, wenn das Kloster still ist, und ich über mein Leben nachdenke. Dann erinnere ich mich gelegentlich an diese drei Bäume.“
    Ich feixte ebenso breit wie er. „Nicht so einfach, so ein zölibatäres Leben, was?“
    „Spotte du nur. Natürlich ist´s nicht einfach. Aber es ist nicht nur eine elende Plage, wie der Laie meint. Das Zölibat sorgt dafür, dass man öfter an alte Zeiten denkt.“
    Er wusste genau, was ich am liebsten darauf gesagt hätte. Aber ich traute mich nichtmal, die Handbewegung anzudeuten. Wollte ja keinen Ärger. Nicht mit Ignacio.
    „Hier rein.“ Stimmt. Der schmale Einschnitt war mir noch gut bekannt. Schlangenhaft wand er sich in den Sandstein, folgte dem Lauf des Wassers, das ihn geschaffen hatte, und wurde dabei immer enger. Bis wir nur hintereinandergehen konnten.
     
    Der Überhang war auf vier oder fünf Meter unterspült und zu dieser Jahreszeit furztrocken. Seit Februar hatte es nicht mehr geregnet, seit über einem Vierteljahr. Wir bückten uns und gingen in die Höhle. Durch den tiefen Spalt, den das Wasser in den Sandstein geschnitzt hatte, fiel das grelle Licht der Wüstensonne und brachte die verschiedenfarbigen, aufeinandergelegten Sandsteinschichten zum Glühen.
    „Darf ich?", wollte Ignacio wissen. Ich nickte, weil ich nicht wusste, wofür er um Erlaubnis bat. Er krabbelte zum hinteren Höhlenabschnitt, dort, wo die Höhlendecke sanft zum Sandboden abfiel, klatschte laut in die Hände – „Viecher!“ - und griff beherzt in einen Sims, der in Kopfhöhe des Knieenden aus dem weichen Gestein gespült war. Als er die Hand zurückzog, hielt er eine durchsichtige Plastiktüte, die einen großen Umschlag enthielt. Einen gut gefüllten, großen Umschlag.
     
    Die vielen Seiten stammten aus einem Anwaltsblock. Gelb, liniiert, länger als ein Normblatt, gleiche Breite. Diese Art Schreibblöcke kennt auch der Laie aus jedem besseren Hollywood-Krimi. Sobald der Verteidiger aufsteht, um der Jury die Unschuld seines Mandanten zu beteuern, liest er von einem derartigen Blatt Stichpunkte ab, während sein Kontrahent emsig Notizen macht, natürlich ebenfalls auf gelbem Block. Weil beide ohne ausführliche Notizen nach einer Weile nicht mehr wissen, was gesagt wurde. Was wieder einmal beweist, dass Lügen schwieriger ist, als gemeinhin angenommen wird, und dass jeder Berufszweig sein typisches Werkzeug hat. Der amerikanische Anwalt ist selbst im volldigitalisierten Zeitalter ohne gelben Block verloren.
     
    Mistys raumgreifende Handschrift füllte jede Seite. Zahlenkolonnen, Notizen, Namen und Beschreibungen waren ohne erkennbaren Zusammenhang notiert, teilweise durch Pfeile verbunden oder durch gekritzelte Fußnoten erläutert. Auf den ersten Blick war nicht zu erkennen, was das Ganze sollte. Aber Ignacio und ich kannten Misty. Wir wussten, dass die vielen Blätter durchaus einen Sinn hatten. Blieb nur festzustellen, welchen.
    „Ich meine, dass sie hier eine Vermögensaufstellung gemacht hat. Unser Geld, das sie verwaltete.“
    Wahrscheinlich habe ich recht, meinte Ignacio. „Wie ich sie kenne, ist da alles genau aufgeführt. Sie ist in Gelddingen penibel – das war einer der Gründe, warum wir uns damals trennten. Sie konnte nicht verstehen, dass mir Geld nicht sehr wichtig war,“ grinste er verlegen. „Außerdem gefiel ihr nicht, dass ich meinen Polizistenjob schon damals aufgeben wollte.“
    Ich erinnerte mich, wie genau sie rechnete, wie sie ihre „Akademie“ im Griff hatte. Großzügig war sie immer, aber sie ließ sich von keinem bescheißen. Ich würde mich um ihre Aufzeichnungen kümmern müssen. Vielleicht bestand doch noch Hoffnung.
     
    Der Rückweg begann recht flott. Wir stapften hintereinander her, gingen wieder parallel zur Wand zum Jeep zurück, als jemand auf uns schoss. Nicht unbedingt auf uns, aber in unsere Richtung. Ein einziger, peitschender Schuss. Was in mir einen Fallreflex auslöste trieb Ignacio zur Flucht. Er fand hinter einem zum Glück stämmigen Joshua Tree Deckung, winkte

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