Ab die Post
Zweck dieses Raums gewesen sein mochte: Jetzt war er der Ort, an dem zwei Menschen lebten. Zwei Personen, die miteinander zurechtkamen, aber einen klaren Sinn für Mein und Dein hatten. Der Raum war in zwei Hälften unterteilt, auf jeder Seite stand ein schmales Bett an der Wand. Eine gemalte Linie reichte über den Boden, die Wände und die Decke. Meine Hälfte, deine Hälfte. Solange wir daran denken, gibt es keine… Probleme, verkündete die Linie.
In der Mitte, genau auf der Linie, stand ein Tisch, die eine Hälfte auf dieser Seite und die andere auf jener. Auf beiden Seiten bemerkte Feucht jeweils einen Becher und einen Blechteller. Genau in der Mitte des Tisches stand ein Salzstreuer. Die Trennungslinie bildete um ihn herum den kleinen Kreis einer entmilitarisierten Zone.
Eine Hälfte des Raums enthielt eine unaufgeräumte große Werkbank mit Gläsern, Flaschen und alten Zeitungen – sie sah wie der Arbeitsplatz eines Chemikers aus, der die ganze Zeit über improvisierte, bis alles explodierte. In der anderen Hälfte sah Feucht einen alten Spieltisch, auf dem kleine Kästen und Rollen aus schwarzem Filz beunruhigend präzise angeordnet waren. Außerdem bemerkte er dort das größte Vergrößerungsglas, das er jemals gesehen hatte, auf einem Stativ.
Jene Seite des Raums war sauber. Diese hingegen präsentierte ein Durcheinander, das über die Linie zu quellen drohte. Wenn ein Fetzen Papier von der schmutzigen Seite nicht per se eine besondere Form hatte, so musste man annehmen, dass jemand mit Sorgfalt, Präzision und vermutlich einer Rasierklinge die Ecke abgeschnitten hatte, die zu weit gegangen war.
Ein junger Mann stand in der Mitte der sauberen Hälfte. Offenbar hatte er auf Feucht gewartet, wie auch Grütze, aber er war kein Meister der Kunst, Haltung anzunehmen. Besser gesagt: Er schien sie nur halb zu verstehen. Seine rechte Seite hatte weitaus mehr Haltung angenommen als die linke, woraus folgte, dass er wie eine Banane dastand. Doch sein breites nervöses Grinsen und die großen glänzenden Augen verrieten einen Eifer, der vielleicht über die Grenzen geistiger Gesundheit hinausging. Irgendetwas an ihm vermittelte den Eindruck, dass er beißen konnte. Und er trug ein blaues Baumwollhemd mit der Aufschrift »Frag mich nach Nadeln!«
»Äh«, sagte Feucht.
»Postbotenlehrling Stanley«, brummte Grütze. »Eine Waise, Herr. Sehr traurig. Ist aus dem Waisenhaus der Offlerschwestern zu uns gekommen, Herr. Vater und Mutter sind auf ihrem Bauernhof in der Wildnis an Kribbelitis gestorben, Herr. Wurde von Erbsen aufgezogen, Herr.«
»Du meinst sicher mit Erbsen, Herr Grütze.«
»Nein, Herr. Von Erbsen, Herr. Ein sehr ungewöhnlicher Fall. Ein guter Junge, wenn er sich nicht aufregt, neigt aber dazu, sich zur Sonne zu strecken, wenn du verstehst, was ich meine, Herr.«
»Äh… vielleicht«, erwiderte Feucht und wandte sich schnell an Stanley. »Du weißt also etwas über Nadeln?«, fragte er und hoffte, jovial zu klingen.
»Nein, Herr!«, sagte Stanley Es fehlte nur noch, dass er salutiert hätte.
»Aber auf deinem Hemd steht…«
»Ich weiß alles über Nadeln, Herr«, sagte Stanley. »Alles, was es zu wissen gibt!«
»Das ist, äh…«, begann Feucht.
»Alle Fakten über Nadeln sind mir bekannt, Herr«, fuhr Stanley fort. »Es gibt nichts, was ich nicht über Nadeln weiß. Frag mich irgendetwas über Nadeln, Herr. Was auch immer. Nur zu, Herr!«
»Nun…« Feucht zögerte, doch Jahre der Übung kamen ihm zu Hilfe. »Ich frage mich, wie viele Nadeln in dieser Stadt während des vergangenen Jahrs hergest…«
Er unterbrach sich. Eine Metamorphose erfasste Stanleys Gesicht: Es glättete sich und verlor den Ausdruck, dass sein Besitzer einem das Ohr abbeißen wollte.
»Im vergangenen Jahr haben die Werkstätten (oder ›Nadlereien‹) von Ankh-Morpork insgesamt siebenundzwanzig Millionen achthundertachtzigtausend neunhundertsiebenundachtzig Nadeln hergestellt«, sagte Stanley und blickte in ein privates Universum voller Nadeln. »Dazu zählen alle Nadeln mit Wachsköpfen, aus Stahl und Messing, mit silbernen Köpfen (und ganz aus Silber), extra große, maschinen- und handgefertigte, herkömmliche und neue, aber keine Reversnadeln, denn das sind keine richtigen Nadeln, sondern eine eigene Kategorie, Herr…«
»Ah, ja, ich glaube, ich habe einmal eine Zeitschrift oder so gesehen«, sagte Feucht verzweifelt. »Wenn ich mich recht entsinne, hieß sie… Welt der Nadeln?«
»Meine Güte«,
Weitere Kostenlose Bücher