Ab die Post
glaubst, es ist kein Pfusch mit der Post, wenn man irgendwelche Briefe für hundert Jahre unter den Dielen verschwinden lässt?«
Grütze wirkte plötzlich elend. Der Bart zitterte. Dann begann er zu husten, in großen, explosiven, zerreißenden Schüben, die Gläser erzittern und gelben Dunst von den Hosenbeinen aufsteigen ließen. »Bitte entschuldige, Herr«, keuchte Grütze, griff in die Tasche und holte eine verbeulte Dose hervor. »Magst du Bonbons, Herr?«, fragte er, und Tränen rollten ihm über die Wangen. Er bot Feucht die Dose an. »Diese hier sind Nummer Drei, Herr. Sehr mild. Ich mache sie selbst, Herr. Natürliche Arznei aus natürlichen Ingredienzien, das ist mein Stil, Herr. Man muss die Atemwege freihalten, Herr, sonst kriegt man Probleme mit ihnen.«
Feucht nahm eine große, violette Pastille aus der Dose und schnupperte daran. Sie roch ein wenig nach Anis.
»Danke, Herr Grütze«, sagte er, und für den Fall, dass es ein Bestechungsversuch war, fügte er streng hinzu: »Die Post, Herr Grütze? Ist es etwa kein Pfusch, Briefe dorthin zu stecken, wo Platz für sie ist?«
»Dadurch wird die Post… nur aufgehalten, Herr. Sie wird, äh, langsamer. Ein wenig. Es kann keine Rede von der Absicht sein, sie nie zuzustellen, Herr.«
Feucht sah Grützes besorgte Miene. Bei ihm stellte sich jenes verunsichernde Gefühl ein, wenn man es mit jemandem zu tun hat, dessen Welt nur an den Fingerspitzen mit der eigenen verbunden ist. Kein Eremit, dachte er. Eher ein Schiffbrüchiger, der auf dieser trockenen Wüsteninsel eines Gebäudes lebt, während die Welt draußen weitergeht und er immer mehr den Verstand verliert.
»Herr Grütze, ich möchte dich nicht beunruhigen oder so, aber hier liegen abertausende von Briefen unter einer dicken Schicht aus Taubenguano…«, sagte er langsam.
»Oh, in diesem Punkt sind die Dinge nicht so schlimm, wie man meinen könnte«, sagte Grütze und legte eine kurze Pause ein, um laut an seiner natürlichen Hustenpastille zu lutschen. »Taubendreck ist sehr trockenes Zeug, bildet eine harte schützende Kruste auf den Umschlägen…«
»Warum sind sie alle hier, Herr Grütze?«, fragte Feucht. Menschenkenntnis, erinnerte er sich. Es ist dir nicht gestattet, ihn zu schütteln.
Der Junior-Postbote wandte den Blick ab. »Du weißt ja, wie das ist…«, versuchte er.
»Nein, Herr Grütze. Ich glaube, ich weiß es nicht.«
»Nun… vielleicht hat ein Mann viel zu tun und eine volle Runde, vielleicht ist es Silvester, viele Glückwunschkarten, verstehst du, und der Inspektor will feststellen, wie schnell er ist, deshalb bringt er einen halben Beutel Briefe an einem sicheren Ort unter… aber er wird sie zustellen, klar? Ich meine, es ist nicht seine Schuld, wenn er dauernd unter Druck gesetzt wird, dauernd unter Druck. Dann beginnt der nächste Tag, und diesmal enthält sein Sack noch mehr Post, weil man ihn dauernd unter Druck setzt, also denkt er: Ich lege einen Teil beiseite, weil ich am nächsten Donnerstag frei habe, dann stelle ich den Rest zu, aber am Donnerstag liegt er um mehr als einen Tag zurück, weil man ihn dauernd unter Druck setzt, außerdem ist er müde, hundemüde, deshalb sagt er sich, bald bekomme ich Urlaub, aber als er dann Urlaub bekommt… Zum Schluss wurde alles sehr scheußlich. Es gab… Unannehmlichkeiten. Wir waren zu weit gegangen, Herr, wir hatten uns zu sehr angestrengt. Manchmal zerbrechen Dinge so sehr, dass man sie besser sich selbst überlässt, anstatt zu versuchen, die Bruchstücke einzusammeln. Ich meine, wo sollte man anfangen?«
»Ich glaube, ich verstehe«, sagte Feucht. Du lügst, Herr Grütze. Du lügst, indem du nicht die ganze Wahrheit erzählst. Du verschweigst etwas. Und die Dinge, die du mir verschweigst, sind sehr wichtig. Ich habe das Lügen zu einer Kunst entwickelt, Herr Grütze, und du bist nur ein talentierter Amateur.
Grütze wusste nichts von diesem inneren Monolog und rang sich ein Lächeln ab.
»Aber das Problem ist… Wie lautet dein Vorname, Herr Grütze?«, fragte Feucht.
»Tolliver, Herr.«
»Hübscher Name… Nun, das Bild, das ich in deinen Beschreibungen sehe, Tolliver, ist etwas, das ich um einer Analogie willen Kamee nennen möchte, wohingegen all dies…« Feucht machte eine Geste, die dem Gebäude und seinem gesamten Inhalt galt. »… ein großes Triptychon ist, das historische Szenen zeigt, die Erschaffung der Welt und das Gemüt der Götter, mit einer dazu passenden Kapellendecke, die das prächtige
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