Abaddons Tor: Roman (German Edition)
Leute, die verzeihen können, wollen anderen helfen. Sie haben ihr Leben eingesetzt, um Fremde zu retten, und sie warten jetzt vor der Tür und sterben. Ich muss nicht blind meinem Glauben folgen. Das sind Tatsachen, und genau das geschieht jetzt gerade.«
Anna hielt inne und wartete auf ein Zeichen, dass Clarissa noch zuhörte. Nur das leise Zischen, das aus dem Com drang, verriet ihr, dass die Verbindung noch stand.
»Das sind die Menschen, denen zu helfen ich Sie bitte«, fuhr Anna fort. »Der Mensch, den zu hintergehen ich Sie bitte, ist ein Mann, der Unschuldige tötet, wenn es ihm nützlich erscheint. Vergessen Sie die Erde und den Ring und alles andere, was Sie glauben oder nicht glauben wollen. Stellen Sie sich nur eine einzige Frage: Wollen Sie, dass Ashford Holden und Naomi tötet? Da geht es nicht um den Glauben. Es ist eine einfache Frage, Claire. Können Sie zulassen, dass diese Menschen sterben? Welche Entscheidung haben diese Menschen getroffen, als sie bei Ihnen vor der gleichen Frage standen?«
Anna wusste, dass sie blind herumstocherte und sich wiederholte. Trotzdem fiel es ihr schwer, innezuhalten und zu schweigen. Sie war nicht daran gewöhnt, die Seele eines Menschen zu retten, den sie nicht sehen und dessen Reaktionen sie nicht einschätzen konnte. Diese Leere versuchte sie zu füllen, indem sie hastig redete.
»Es missfällt mir so sehr wie Ihnen, dass diese Menschen getötet werden«, sagte Cortez. Es klang traurig, er hielt jedoch an seiner Position fest. »Aber manchmal sind Opfer notwendig, und die Schrift sagt uns, dass ein solches Opfer heilig ist.«
»Ehrlich?« Anna lachte humorlos. »Wollen wir uns jetzt die Zeit mit Bibellesungen vertreiben?«
»Wir haben es hier mit Dingen zu tun, für die die Menschheit nicht bereit ist«, behauptete Cortez.
»Das zu entscheiden ist nicht Ihre Aufgabe, Hank.« Sie zielte mit dem Finger auf den Com, als stünde der Mann vor ihr. »Denken Sie über die Menschen nach, die Sie töten. Sehen Sie sich an, mit wem Sie zusammenarbeiten, und fragen Sie Ihr Gewissen, ob Sie wirklich das Richtige tun.«
»Wollen Sie mein Handeln nach der Gesellschaft beurteilen, in der ich mich befinde?«, erwiderte Cortez. »Wollen Sie das wirklich tun? Gottes Werkzeuge sind seit jeher mit Makeln behaftet. Wir sind schwache Menschenwesen, aber wir werden zu moralisch handelnden Geschöpfen, wenn wir im Angesicht des drohenden Todes die Kraft finden, das zu tun, was wir tun müssen. Gerade Sie sollten doch …«
Einen Moment lang wurde es still.
»Cortez?«, sagte Anna. Doch als sie seine Stimme wieder hörte, sprach er nicht mehr mit ihr.
»Clarissa, was tun Sie da?«
Clarissa antwortete ganz ruhig, fast wie im Halbschlaf. »Ich habe die Tür geöffnet.«
50 Holden
Naomi hatte neben der Luftschleuse des Kommandodecks eine Wartungsklappe abgenommen und war halb hineingekrochen. Nur ihre Hüfte und die Beine schauten noch heraus. Holden hatte seine Magnetstiefel neben der Außentür der Luftschleuse auf den Boden gepflanzt und erwartete ihre Anweisungen. Hin und wieder bat sie ihn, den Zugang zu öffnen, doch bisher waren alle Versuche vergeblich verlaufen. Corin schwebte neben ihnen und beobachtete durch ihr Zielfernrohr den Aufzugschacht. Vor ein paar Minuten hatten sie einen grellen Lichtblitz gesehen, und eine Erschütterung war durch die Schot ten gelaufen. Dort unten hatte eine heftige Explosion stattgefunden.
Nicht zum ersten Mal an diesem Tag stand Holden mit dem Rücken zur Wand. Inzwischen betrachtete er das alles mit einer Art Galgenhumor. Wenn man sich schon einen Ort zum Sterben aussuchen musste, dann war die kleine Plattform zwischen dem Aufzugschacht und der Luftschleuse so gut wie jeder andere. Die Nische in der Wand des Schachts maß etwa drei Meter. Der Boden, die Decke und die Wände bestanden wie die äußere Schiffshülle aus Keramik und Stahl. Die Rückwand war die Tür der Luftschleuse. Vorne, wo normalerweise der Aufzug halten sollte, klaffte ein Abgrund. Wenn Ashfords Leute den Schacht heraufstürmten, bot ihnen der Boden wenigstens ein bisschen Deckung.
Naomi drehte sich etwas zur Seite und trat mit einem Bein aus. Über Funk hörte Holden sie grunzen, als sie sich anstrengte, um etwas zu packen, das sich knapp außer Reichweite befand.
»Hab ich dich«, triumphierte sie. »So, versuch’s noch einmal.«
Holden drückte auf den Knopf, um die äußere Schleusentür zu öffnen. Nichts rührte sich.
»Hast du es schon versucht?«,
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