Abaddons Tor: Roman (German Edition)
Sie blinzelte und schüttelte den Kopf, um klar sehen zu können. Das war ein Fehler, denn die Bewegung jagte einen Stich durch ihr Rückgrat, bei dem sie fast ohnmächtig wurde.
»Was?«, wollte sie sagen. Mehr als ein schmatzendes »Wmsch« kam nicht heraus.
»Mein Gott, Rotkäppchen, ich dachte schon, Sie wären im Eimer«, ließ sich eine vertraute Stimme vernehmen. Grob, aber freundlich. Amos. »Es hätte mir überhaupt nicht gefallen, wenn ich mein Versprechen gebrochen hätte.«
Erneut schlug Anna die Augen auf, hütete sich dieses Mal aber, den Kopf zu bewegen. Sie trieb annähernd im Zentrum des ehemaligen Studios. Okju schwebte neben ihr, einer ihrer Füße steckte in Annas Achselhöhle. Anna zog die Beine aus zwei Bürostühlen, in denen sie sich verfangen hatten, und schob den Ficus weg, der sich an ihr Gesicht schmiegte.
Wieder knallte eine lange Salve von Feuerwerkskörpern. Annas benebeltes Gehirn brauchte ein paar Sekunden, um zu erkennen, dass es sich um Gewehrschüsse handelte. Auf der anderen Seite des Raumes lehnte Amos neben der Eingangstür an der Wand, nahm ein Magazin aus dem Gewehr und ersetzte es mit den flüssigen Bewegungen, die lange Übung verrieten, durch ein neues. Auf der anderen Seite der Tür schoss einer der UN-Soldaten, die sie aufgelesen hatten, auf jemanden, der sich draußen näherte. Das Gegenfeuer riss nur ein paar Meter neben Anna Brocken von geschmolzenem Fiberglas aus der Wand.
»Wenn Sie nicht tot sind …«, Amos hielt inne, spähte um die Ecke und gab eine kurze Salve ab, »… dann sollten Sie aus der Mitte des Raums verschwinden.«
»Okju.« Anna zupfte die Frau am Arm. »Wachen Sie auf, wir müssen hier weg.«
Okjus Arm pendelte schlaff hin und her, und die Frau begann, langsam in der Luft zu rotieren. Erst jetzt bemerkte Anna, dass der Kopf unnatürlich schief stand. Unwillkürlich zuckte sie zurück. Die Eidechse, die am Ende des Rückgrats hauste, riet ihr, sich so schnell wie möglich von der Toten zu entfernen. Anna schrie erschrocken auf und stieß sich mit den Füßen von Okju ab, sodass sie in entgegengesetzte Richtungen davonflogen. Als sie gegen die Wand prallte, hielt sie sich mit aller Kraft an einer LED-Leuchte fest. Durch Kopf und Hals jagte ein pochender Schmerz.
Das Feuergefecht hörte nicht auf. Amos und seine bunte kleine Schar von Verteidigern schossen aus allen Öffnungen des Bürotrakts. Einige Schießscharten hatten sie sogar eigens in die Wände geschnitten.
Sie wurden angegriffen. Ashford hatte seine Leute geschickt, um sie zum Schweigen zu bringen. Auf einmal brach die Erinnerung an die letzten Augenblicke auf sie herein. Das schreckliche Kreischen, und dann war sie seitwärts gegen die Wand geschleudert worden.
Ashford hatte anscheinend die Walze gestoppt, um sie zu behindern und es seinen Bewaffneten zu erlauben, sie zu töten. Wenn Okju beim plötzlichen Abbremsen der Walze umgekommen war, dann musste das Gleiche dutzendfach oder gar hundertfach überall in der zusammengewürfelten Bevölkerung der Behemoth geschehen sein. Ashford war bereit, sie alle zu töten, um sich durchzusetzen. Nun wurde Anna ernsthaft wütend, und sie war froh, dass niemand daran gedacht hatte, ihr eine Waffe zu geben.
»Sind wir noch auf Sendung?«, rief sie Amos zu, um das Gewehrfeuer zu übertönen.
»Keine Ahnung, Rotkäppchen. Monica ist im Studio.«
Anna zog sich an der Wand entlang zu dem Verschlag, in den sie die Studiotechnik gestopft hatten. Monica schwebte darin und überprüfte die Geräte. Der Raum war nicht groß genug für sie beide, deshalb stieß Anna die Tür ein Stück weiter auf und sagte: »Sind wir noch auf Sendung? Können wir weitermachen?«
Monica lachte humorlos, ohne sich umzudrehen. »Ich hielt Sie für tot.«
»Nein, aber Okju ist tot. Ich glaube, sie hat sich das Genick gebrochen. Wenn Sie wollen, nehme ich die Kamera. Wo ist Clip?«
»Clip wollte Amos helfen und hat einen Schuss in die Hüfte bekommen. Er verblutet in einem Büro. Tilly hilft ihm.«
Anna schob sich tiefer in den kleinen Raum hinein und legte Monica eine Hand auf die Schulter. »Wir müssen wieder auf Sendung gehen. Wir müssen weitermachen, denn sonst war alles umsonst. Sagen Sie mir, was ich tun kann.«
Monica lachte, drehte sich um und wehrte Annas Arm ab. »Was glauben Sie denn, was hier passiert? Ashfords Männer rücken an, um uns zu töten. Bull und seine Leute haben den Maschinenraum verloren, und Juarez sagt, Bull sei umgekommen. Wer weiß,
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