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Abaton

Abaton

Titel: Abaton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Jeltsch
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Nacht. Überall waren noch Einschusslöcher zu sehen. Die Mauern waren von Abgasen und Ofenruß angegriffen und schienen beim bloßen Anschauen zu zerbröckeln. Aus einem der offenen Kellerfenster wehte der kalte Hauch der Geschichte, vermischte sich mit der herbstlichen Nachtluft und griff nach ihm. „Die Sterne sind die Schlitze in der Maske des Henkers“, hatte er irgendwo gelesen. Aber es war kein Stern zu sehen und in den Häusern brannte nirgendwo Licht.
    Nur eine einzige Laterne stand ein paar Hundert Meter entfernt und leuchtete tapfer gegen die Dunkelheit an. Nein, hier hatte er nichts zu suchen. Er würde zum Bahnhof fahren und den nächsten Zug nach Mannheim nehmen. Irgendwie würde er sich schon durchschlagen.
    Im Lichtschein unter einer Laterne sah er plötzlich einen einsamen Pflastermaler auf dem Gehsteig hocken und malen. Die meisten anderen Straßenkünstler waren schon verschwunden, ein paar wenige packten gerade ihre Sachen zusammen.
    Irgendwas an der friedlichen Ausstrahlung des Malers, der völlig in seine Arbeit vertieft schien und kein einziges Mal aufschaute, zog Simon an. Auf der ganzen Straße war jetzt außer ihm niemand mehr zu sehen. Auf dem Grundstück neben dem alten Gebäude, vor dem der Maler saß, sah Simon die Fliesen und Fundamente des Nachbarhauses, das vor vielen Jahren wohl den Bombenangriffen der Alliierten zum Opfer gefallen war. Ein altes Sofa und ein paar Haushaltsgeräte standen herum, darauf eine Katze, die sich reckte und Simon alarmiert beobachtete.
    Als Simon nähertrat, bemerkte er, dass der Maler fast den gesamten Bürgersteig bemalt hatte. Simon betrachtete das Bild. Eine altertümliche Wohnung, wie aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg.
    „Hi“, sagte Simon.
    „Hab dich schon erwartet“, sagte der Maler. Aber er blickte immer noch nicht auf. Er schraffierte ein Bett, das im Inneren der Wohnung stand. Sie mutete dreidimensional an, sodass Simon meinte, er brauche nur einzutreten und sich auf einen der einladenden alten Sessel zu setzen. Neben dem Sessel stand ein Grammofon mit einer Schellackplatte darauf. Die schwarze Katze, die ihn eben angesehen hatte, saß jetzt auf einem Küchenstuhl und hatte den Schwanz um die Pfoten gelegt. Sie sah so naturgetreu aus, dass Simon ihre Barthaare zählen konnte. Fasziniert blickte sich Simon in dem dunklen, niedrigen Raum auf dem Pflaster um. Ein grünlicher Schimmer lag über dem Bild, der von einem Licht an einem technischen Gerät im hinteren Teil der Wohnung stammte. Simon sah, dass sich die Wohnung über eine große Fläche erstreckte. Er ertappte sich dabei, wie er versucht war, den Lichtschalter zu betätigen, den der Maler neben der Eingangstür an die Wand gemalt hatte, um besser sehen zu können. In letzter Sekunde erinnerte er sich daran, dass er es nur mit einem Kreidegemälde zu tun hatte.
    „Tritt ruhig ein, wenn dir die Wohnung gefällt“, murmelte der Maler, als hätte er Simons Gedanken gelesen. „Es ist niemand zu Hause.“
    Simon wusste nicht, ob er sich verhört hatte.
    Er spürte, wie die Katze zwischen seinen Beinen hindurch über das Bild lief und in der Dunkelheit verschwand. Tatsächlich meinte Simon, einen Drehknopf zu ertasten und als er ihn betätigte, erhellte sich eine alte durchsichtige Glühbirne in einer Lampe aus schwarzem Metall. Im selben Augenblick zündete sich der Maler eine Zigarette an. Das Licht des Streichholzes flackerte über das Bild.
    Das musste es gewesen sein, dachte Simon.
    Wie müde er plötzlich war. Er schaute auf den Rauch der Zigarette, der  sich in die Nachtluft kringelte. Dann wieder auf das Bett in der Tiefe der Wohnung, das unter einem Baldachin stand. Alles war alt – der kleine Nachttisch, die Tabakpfeife und das abgegriffene aufgeschlagene Buch. Simon trat näher und erkannte auf den Buchseiten zwei Sonnenräder. Er erschrak. „Warum malen Sie das?“, fragte Simon verwundert. „Das sind Sonnenräder.“
    „Damit du einen sicheren Platz zum Schlafen hast, natürlich“, antwortete
der Mann und lachte ein leises, heiseres Lachen, das Simon bekannt vorkam. Er ließ sich neben dem Mann auf dem Pflaster nieder und sah zu, wie er mit schnellen, präzisen Handbewegungen das Bild vervollständigte. Mit seinen dunklen Haaren und dem Bart ähnelte der Mann Professor Schifter, dem Ethnologen aus dem Museum. Doch das konnte nicht sein. Sein Akzent kam Simon merkwürdig fremdländisch vor.
    „Ich habe noch nie etwas so Einladendes gesehen wie dieses Bett!“,

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