Abaton
vor, die Wohnung auf schnellstem Weg zu verlassen.
In diesem Augenblick wurde die Tür aufgestoßen. Traf Simon. Er taumelte zurück. Der Eindringling fiel über ihn und landete auf Simon, sodass auch er zu Boden stürzte. Einen Atemzug lang herrschte Stille. Der Fremde, der auf ihm lag, war nicht schwer. Und er roch. Roch gut. Das Parfüm kam Simon bekannt vor, die Silhouette der Gestalt ebenfalls.
„Edda!“, schrie er laut, halb vor Schmerz und halb verwundert. „Edda!“ Simon rappelte sich auf und betätigte den Lichtschalter.
Edda war auch aufgestanden und starrte Simon fassungslos aus ihren großen Augen an. Ohne zu überlegen stürzte er auf sie zu, nahm sie in den Arm und küsste sie vor Freude auf den Mund, als wäre sie seine lang vermisste Geliebte. Doch dann wurde ihm bewusst, was er da tat.
Er trat einen Schritt zurück und überspielte seine Verlegenheit.
„Kommst ’n du hierher?“, fragte Edda erstaunt und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. „Um’s Haar hätte ich dich erschlagen.“
Sie hob die Flasche in die Höhe, die sie in der Hand gehalten hatte.
„Ich hab keine Ahnung!“, sagte Simon. „Ich bin einfach hier in dem Bett aufgewacht! Davor war ich noch auf der Straße. Und hab einem Pflastermaler zugesehen ...“
Edda lachte laut auf. „Was? Blödsinn! Das ist die Wohnung von meiner Großmutter!“
Wie gleichmäßig und vollkommen ihr Gesicht war! Selbst die kleinen Sommersprossen auf ihrer Nase passten perfekt.
„Hätte dich fast nicht erkannt mit der Glatze“, sagte Edda. „Wieso hast ’n die Haare ab?“
Simon erzählte, was inzwischen passiert war. Er erzählte von Bobo, davon, wie er sich ins Gefängnis hatte schmuggeln lassen, und von der Tätowierung; nicht aber, was sie bedeutete. Er war froh, sich endlich alles von der Seele reden zu können und jemanden zu haben, dem er vertrauen konnte.
„Du spinnst!“, sagte Edda schließlich im Brustton tiefster Überzeugung, nachdem er berichtet hatte, wie sich sein Leben innerhalb von ein paar Tagen von oben nach unten gekehrt hatte. Edda betrachtete den Jungen. Sie wusste nicht, ob sie ihm die Geschichte mit dem Pflastermaler glauben sollte. Aber sie hatte Simon nicht als Spinner kennengelernt. Und der Schlüssel für die Wohnung lag ja wirklich für jeden, der davon wusste, zugänglich hinter dem Ziegelstein.
„Sieht scheiße aus das Tattoo“, sagte sie schließlich. „Wie ´ne Gießkanne.“ Sie schaute ihn an und rief sich ins Gedächtnis, was ihr in den letzten Tagen widerfahren war.
„Seltsam“, sagte sie.
„Was?“
„Bei mir ist auch alles drunter und drüber gegangen seit dem Camp.“ Sie erzählte vom Verschwinden ihrer Großmutter. Von ihrem seltsamen Fund auf dem Dachboden. Marco und die Geschichte mit ihrer Mutter, den Blitzen und dem Schlüssel ließ sie aus. Und auch den Anruf von Linus. Sie wollte nicht, dass Simon sich vielleicht darüber lustig machte. Edda erzählte, dass Marie als Assistentin des Großen Furioso gearbeitet hatte und dass sich hinter diesem Namen der Wissenschaftler Bernikoff verbarg.
Nachdem sie einen ersten Blick in die Wohnung geworfen hatte, hatte sich Edda auf den alten Drehstuhl aus Holz gesetzt und die Beine auf den Schreibtisch gelegt. Ihre Füße steckten in schweren Springerstiefeln und Simons Blick wanderte ihre schlanken Beine entlang bis zum Saum ihres kurzen Rockes. Am liebsten hätte er sie in den Arm genommen.
„Warst du schon mal hier?“, fragte er stattdessen, um die Stille nicht zu peinlich werden zu lassen.
„Noch nie“, sagte Edda und drehte sich auf dem Stuhl.
„Komisch, hier sieht es aus, als wäre sie von einem Tag auf den anderen verschwunden ... oder Hals über Kopf geflohen.“
„Ja“, sagte Simon. „Und zwar am 2. Mai 1945.“ Er zeigte Edda den Kalender. Sie wunderte sich und sah sich noch einmal genauer um.
An der linken Wand des großen niedrigen Raumes erstreckten sich deckenhohe Regale, die voller Bücher waren. Wahllos zog Edda ein paar Bücher aus den Regalen. Die meisten waren vor 1940 erschienen. Viele auf Englisch, auch indische Werke waren darunter. Edda schlug eines auf und blätterte durch die Illustrationen eines indischen Dorfes. Edda erkannte darin den Tempel, den kleinen See und ein paar der Gebäude, die aus der Kolonialzeit stammten und in denen später die Sekte gewohnt hatte. Sie merkte, wie sie von einer merkwürdigen Unruhe ergriffen wurde.
Simon trat zu ihr und blickte auf die aufgeschlagene
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