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Abaton

Abaton

Titel: Abaton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Jeltsch
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Raums der Trauer. An einem Tisch saßen Menschen. Linus ging näher und erkannte seine Großeltern. Sie kümmerten sich nicht um ihn, schienen ihn nicht wahrzunehmen. Sie spielten Karten, doch auf den Karten waren weder Bilder noch Zahlen. Dennoch schien jemand zu gewinnen, ein anderer zu verlieren. Linus begann, nach jemandem zu suchen. Er konnte seine Eltern nicht entdecken. Er öffnete die Augen. Wieder zurück in dem milden Abend war er sich plötzlich sicher, dass seine Eltern noch lebten. Er musste noch einmal in den Untergrund, in die Eingeweide der Stadt. Er wollte noch einmal von vorn und ganz ohne Angst die Spur seiner Eltern aufnehmen.
    Von der Dorotheenstraße bog er links ab in die Friedrichstraße. Linus wusste, worauf er achten musste. Die kleinen Hinweisschilder auf einen Notausstieg der U-Bahn. Er ging an dem Haus vorbei, an dessen Mauer ein Schild verkündete, dass sich hier einmal der Wintergarten befunden hatte, das berühmteste Varieté Berlins. Linus war perplex. Sofort fiel ihm wieder ein, was Olsen ihm vom Wintergarten erzählt hatte: Der Große Furioso, die Sonnenräder, die Hypnose ...
    „Kann ich dir helfen?“, fragte eine ältere Frau.
    Linus sah auf und schaute in ein freundliches Gesicht. Er fühlte sich sofort wohl in der Gegenwart dieser Frau. Er hatte keine Bedenken, ihr zu vertrauen.
    „Allein in der Stadt?“, fragte sie.
    Linus nickte.
    „Wenn du willst ... ich mach dir was zu essen.“ Sie lächelte so, wie man sich das Lächeln einer lieben Großmutter vorstellte. Und Linus hatte keine Angst, ebenfalls zu lächeln.
    „Fein“, sagte die Frau und öffnete das Tor zu einem Hinterhof. Sie ging voran und erst jetzt bemerkte Linus, dass die Frau Gehhilfen benutzte.
    Nur an der Nordseite des Hinterhofs stand noch ein altes Haus. Auf den anderen Seiten wurde er von modernen und Nachkriegshäusern gesäumt. Linus schaute zum Himmel. Die Scheinwerfer der großen Clubs der Stadt strahlten in den schon nächtlichen Himmel wie Flakscheinwerfer im Krieg. Er musste an Simon denken. Der hatte von seinem kleineren Bruder erzählt, der überall Bilder und Zeichen gesehen hatte. Und Linus erkannte in den zum Himmel strebenden Fassaden der Häuser einen Buchstaben, den der kleine Ausschnitt Himmel bildete. Er sah aus wie ein ...
    „Wie ein A, nicht wahr?“, unterbrach die Frau Linus’ Gedanken. Sie war seinem Blick zum Himmel gefolgt. Linus sah sie staunend an und nickte. Da entdeckte er hinter der Frau das Zeichen für den Notausstieg der U-Bahn. Eine metallene Platte deckte den Zugang ab.
    „Du willst doch nicht mit“, sagte die Frau und es lag keine Enttäuschung oder Vorwurf in ihrer Stimme. „Gut. Wenn ich dir mal helfen kann, komm einfach vorbei. Ich kenn’ hier Gott und die Welt. Na ja, die Welt ein wenig besser.“
    „Auch den Großen Furioso?“, fragte Linus.
    Die Frau drehte sich zu ihm um und kam ein Stück auf ihn zu. Mit den Schienen, die ihre Beine umschlossen, bewegte sie sich mühsam wie ein Roboter.
    „Du bist Linus?“, fragte sie.
    Hätte Linus noch Angst gehabt, er wäre jetzt mächtig erschrocken. „Woher wissen Sie das?“, fragte er.
    „Der Große Furioso hat mir von dir erzählt.“
    „Aber er kennt mich nicht! Wo ist er?“ Linus war fasziniert von dem Geheimnis, das sich da auftat. Auftat wie ein Schlund, der ihn zu verschlingen drohte. Aber das bedachte er nicht. Er spürte keinen Argwohn.
    „Er hat mir schon vor langer Zeit von dir erzählt. Als ich noch ein Kind war“, sagte die Frau. „Jünger als du.“
    „Was hat er gesagt?“
    „Dass man auf dich warten wird. Weil du ein Geheimnis in dir trägst“, sagte die Frau. Und sie sagte, sie habe das, was Furioso ihr erzählt habe, immer nur für Geschichten gehalten. Aber er habe ihr damit die Angst vor den Bomben genommen. Sie lächelte und war in Gedanken ganz weit weg. Unwillkürlich schaute sie wieder zum Himmel, als erwarte sie, dort die Geschwader der Alliierten zu sehen.
    „Wo ist er?“, fragte Linus. „Was ist das für ein Geheimnis?“ Er wollte es unbedingt wissen.
    „In der Geschichte ging es immer darum, dass Linus das Geheimnis selbst finden muss. Und dass er tief hinuntersteigen muss, um ihm zu begegnen.“ Sie verstummte, schaute Linus an. Hier, an dieser Stelle, habe die Geschichte des Großen Furioso geendet, denn er sei von einem auf den anderen Tag verschwunden.
    „Nachdem er dort in den Untergrund gestiegen war“, sagte sie und deutete auf den Notausstieg.
    [ 1308 ]
    Simon

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