Abaton: Die Verlockung des Bösen (German Edition)
direkt erweckt werden“, sagte Bernikoff. „Jetzt! Nicht mehr durch Geschichten oder wissenschaftliche Arbeit, sondern durch direkten Kontakt. Durch Hypnose.“
„Deshalb hast du dich in den letzten Jahren damit beschäftigt“, begriff Marie. „Deshalb hast du mit dieser Kabine und diesen Wellen experimentiert.“
„Ja. Und deshalb werden wir heute Abend im Wintergarten endlich unseren entscheidenden Auftritt haben.“
„Du willst das Abaton bei all diesen Menschen erwecken?“, fragte Marie und sah, dass ihr Vater schwer atmete, bevor er nickte. „Es ist gefährlich, nicht?“, fragte sie.
„Es ist wichtig, Marie. Es ist das, was wir tun können. Und wenn wir das wissen, dann müssen wir auch handeln. Es ist keine Zeit mehr zu reden.“
„Hast du Sorge, dass ER vielleicht nicht kommen wird, wegen der Flieger?“, fragte Marie.
Bernikoff schüttelte den Kopf.
„Nein. Gerade weil Flugzeuge aufgetaucht sind, wird er den anderen zeigen wollen, dass er sich davon nicht beeindrucken lässt.“
Marie schwieg nachdenklich.
„Hat er keine Angst vor dem Tod?“
„Er betet den Tod an. Einen Tod, der ihn befreit von sich selbst und alles andere mit ihm zerstört. Der Tod ist sein einziger Freund. Aber das weiß er nicht und das macht ihn so überaus gefährlich für alles Lebendige.“
Marie spürte die Kälte, die in diesen Worten lag, obwohl sie von Bernikoff kamen.
„Ich hab Angst vor ihm.“
„Tief in seinem Inneren hat er bereits mit seinem Leben abgeschlossen. Das verleiht ihm eine ungeheure zerstörerische Kraft.“
Die Instrumente im Schlaflabor schlugen aus und ein immer lauter werdendes Piepen durchdrang den Raum und überlagerte das Gespräch.
Ergriffen schaute Greta auf den Monitor. Bernikoffs Worte hatten sie tief berührt. Sie fühlte sich geehrt, dass sie den Weg, den Bernikoff begonnen hatte, zuende gehen durfte. Den Weg zum Abaton.
„Besser, wir brechen für heute ab“, riet Victor.
„Nein. Wieso?“, fragte Greta.
„Ihr Puls rast und ihre Körpertemperatur ist stark gefallen. Ich werde das nicht verantworten.“
„Aber ich!“
„Wenn du willst, dass wir jemals zum Ende dieser Aufzeichnungen kommen, müssen wir dieser Frau eine Pause genehmigen.“ Viktors scharfer Ton duldete keinen Widerspruch.
Greta überlegte eine Sekunde. Sie verstand nicht, weshalb Maries Reaktion auf diesen Dialog derartig heftig war. Das hätte sie so gern noch erfahren. Doch sie lenkte ein.
Dann lächelte sie Louise an, die verängstigt auf einem Stuhl in der Ecke saß.
„Gönnen wir deiner Schwester ein wenig Ruhe“, nickte Greta ihr zu. Dann wandte sie sich an Victor. „Mach mir ein paar Großaufnahmen von Bernikoffs Bücherregal und von der Zeitung auf dem Tisch. Ich möchte das genaue Datum wissen.“
Victor nickte.
„Genau an diesem Tag ist übrigens die schwarze Stelle im Zeitablauf.“
„Ein Defekt im Hirn?“
Victor schüttelte den Kopf. „Nein, eher als wäre etwas gelöscht worden.“
„Wir machen morgen weiter.“
Greta stand auf und wollte den Raum verlassen. Auf dem Weg blieb sie bei Marie stehen und schaute auf ihr Gesicht und ihren Brustkorb, der sich allmählich wieder beruhigte.
„Man soll die Gans nicht schlachten, die goldene Eier legt, nicht wahr?“, sagte sie leise. Als ihr bewusst wurde, was sie gerade gesagt hatte, schaute sie in Louises Gesicht und lächelte versöhnlich. „Gute Nacht!“
Eigentlich wollte Greta früh zu Bett gehen, doch die abendlichen Sitzungen mit Marie, Louise und Victor verstörten sie jedes Mal. Es waren weniger die vielen Informationen und Details, die sie über Bernikoff und sein Leben gewann, sondern die Gewissheit, die Victor eben bestätigt hatte: Dass sie an etwas Wesentliches in Maries Leben nicht herankam. Dass Marie von anderen Menschen geliebt wurde. Nicht nur von Bernikoff und Edda, auch von Louise.
Greta legte sich auf ihr Bett und ihre Augen schlossen sich. Sie fiel in einen unruhigen, wilden Traum: Ein Vogel, ein Greif, groß und mächtig, flog auf sie zu. Greta konnte nicht zur Seite gehen. Konnte sich nicht bewegen. Ihr Hirn signalisierte allen Muskeln in ihrem Körper zu handeln, doch sie versagten den Gehorsam. So wie die vielen Jahre in ihrer Kindheit. Als alle in die sicheren Keller verschwanden, als die feindlichen Flieger näher kamen. Als die Bomben fielen ... Greta schreckte aus dem Traum auf, orientierte sich. Ihr Herz schlug bis in den Hals. Dann spürte sie, wie eine Träne über ihr Gesicht lief und
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