Abaton: Die Verlockung des Bösen (German Edition)
vergessen. Das war ihr noch nie passiert. Noch bis vor einem Jahr war sie jedes Mal vor dem 13. November nervös und gespannt gewesen, was die Geschenke sein würden. Und jetzt? War das ein Zeichen, erwachsen zu werden? Erwachsen zu sein? Immerhin war sie jetzt 15.
Nachdem sie gemeinsam den Kuchen geschlachtet hatten, legten sie sich nebeneinander in das Heubett. Edda kuschelte sich zwischen die Jungs. Sie fühlte sich beschützt. Nein, dachte sie, sie würde sich niemals entscheiden wollen. Linus und Simon waren zusammen der perfekte Mann für sie. Sie dämmerte dahin. Die beiden Jungs sahen sich an. Besser als jede Familie, dachte Linus. Edda rappelte sich noch einmal auf und gab, kurz bevor sie einschlummerte, jedem von ihnen einen Kuss auf die Wange.
„Mir hätte nicht Besseres passieren können als ihr beide!“
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Auf dem gläsernen Bildschirm der GENE-SYS- Zentrale blinkten die drei hellen Punkte.
„Sieht so aus, als hätten sie jetzt ein Refugium“, registrierte Greta zufrieden. Sie deutete auf das Gebäude zwischen den Gleisen und wendete sich Victor zu.
„Die Kinder habt ihr also im Griff. Was mich aber sehr viel mehr interessiert, ist Marie“, sagte er. „Von fast allem, was Marie erlebt hat, lassen sich in ihrem Gehirn Spuren finden. Und es gelingt mir, die Erlebnisse Maries fast linear abzurufen.“
Greta hörte gebannt zu.
„Eines jedoch ist äußerst merkwürdig“, sagte Victor. „Es scheint einen Teil in Maries Leben zu geben, der geblockt ist. So als hätte jemand ihn gelöscht. Nicht nur in ihren Erinnerungen, sondern auch in ihrem Unbewussten, also dem, was sich der bewussten Erinnerung entzieht.“
Greta nickte ungeduldig. Sie wusste, was das Unbewusste war.
Victor stimulierte einen Bereich von Maries Gehirn, das er gescannt und auf einem Bildschirm in unterschiedliche Farbsegmente aufgeteilt hatte. Interessiert verfolgten Greta und Louise, wie er mit dem Cursor über eine Region fuhr und wenige Sekunden später ein erstes, verwaschenes Bild auf dem Monitor erschien. Erinnerungen an einen Skiurlaub. Louise erinnerte sich daran. Sogar an das Jahr. 1965. Doch da war Bernikoff längst aus dem Leben Maries verschwunden. Victor stimulierte noch zwei weitere Regionen.
„Halt!“, rief Greta. „Hier.“
An der Kleidung der Menschen erkannten Greta und Louise sofort, dass es sich um die Dreißiger- oder Vierzigerjahre handeln musste. Die Menschen standen vor einem großen Schiff, das in einem Hafen angelegt hatte.
„Ja. Mit dem Schiff hätten meine Mutter und ich eigentlich nach Bremerhaven kommen sollen“, sagte Louise aufgeregt. „Aber ich bin damals krank geworden. Windpocken.“
Greta rollte mit den Augen.
Das Nebelhorn des Dampfers wurde zum leisen Fiepen eines Wasserkessels. Man hörte das Klappern von Geschirr und das leise Summen des Funkgeräts, das mit den grünlichen Augen im hinteren Teil der Wohnung stand. Dann war die junge Marie zu sehen. Sie lag auf dem Bett und griff nach einem großen dicken Buch mit Comic-Zeichnungen. » Abatonia « stand auf dem Einband.
„Komm endlich aus den Federn!“, rief Bernikoff. „Wir haben viel vor heute!“
„Ich hab aber keine Lust, jeden Tag was zu tun!“, maulte Marie. „Wenn die Welt schon untergeht, können wir nicht wenigstens vorher ein bisschen Spaß haben?“
Sie steckte den Kopf wieder in das Buch.
„Wieso hast du das Land, in das sich die beiden Bienen verziehen, eigentlich » Abatonia « genannt?“, fragte Marie. Sie wusste, dass sie ihren Vater leicht ablenken konnte, wenn sie ihm Fragen zu seiner Arbeit stellte.
„ » Abatonia « ist kein Land, sondern eine Insel“, korrigierte Bernikoff sie. „Der Name stammt aus dem Griechischen. Komm jetzt!“
Marie blieb im Bett. „Es ist aber so spannend! Was ist Abaton?“
„Ich sag´s dir, aber nur, wenn du aufstehst.“
Marie zog eine Schnute, klappte das riesige Buch zu und ging an Bernikoff vorbei zum Waschbecken. In Anzugshose und mit breiten Hosenträgern stand er vor einem Bügelbrett und bearbeitete ein gestärktes Hemd mit dem Bügeleisen. Im Mund qualmte eine filterlose, flache Zigarette. Marie drehte das kalte Wasser auf und klatschte es sich ins Gesicht. Während sie sich abgetrocknete, hörte sie, wie draußen auf der Straße der Verkehr vorbeirauschte.
„Heute Nacht sind Flugzeuge über der Stadt aufgetaucht“, sagte Bernikoff, während er die Bügelfalte in seinem gestärkten Hemd begutachtete. „Ich habe sie auf dem Funkmess
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