Abbau Ost
wiedersehen, wird noch einmal spürbar, wie hoffnungslos und frustrierend
vielen das Leben in der DDR erschienen war. Immer mehr Menschen riskierten nahezu alles, um der Enge zu entkommen. Selbst
in den aufgeregten Oktobertagen des Jahres 1989, sogar noch bis zum Mauerfall in den Nachtstunden des 9. Novembers, dachten
die Menschen, die Hals über Kopf davonliefen, sie würden die Orte, an denen sie aufgewachsen waren, wo sie zur Schule gingen
und ihre erste Liebe entdeckten, wo ihre Eltern, Verwandten und Freunde lebten, niemals wiedersehen.
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|243| Die Opposition
Sie sprechen hier mit einem Mann, der nichts unternehmen wird,
um Sie in eine ungute Lage – ich will das hier nicht näher interpretieren
–, in eine ungute Lage zu bringen.
Bundeskanzler Helmut Kohl in einem Telefonat mit Erich Honecker am 19. Dezember 1983
In den 70er Jahren meldete das Ministerium für Staatssicherheit die Erfüllung seines Kampfauftrages. Die Behörde konnte der
Partei- und Staatsführung versichern, dass es in der DDR, abgesehen von einer überschaubaren Zahl einzelner, namentlich bekannter
Personen, keine Opposition gab. Wer in der DDR etwas verändern wollte, der hätte in Moskau, London, Paris und Washington gegen
eine europäische Nachkriegsordnung protestieren müssen, die von allen Siegermächten anerkannt und sogar, wegen des stabilen
politischen und militärischen Gleichgewichts, außerordentlich geschätzt wurde. Damit billigten die Siegermächte zugleich alle
Maßnahmen, die zum Erhalt der DDR erforderlich waren, selbst wenn diese sich gegen die Interessen und den Freiheitsdrang der
ostdeutschen Bevölkerung richteten. Die meisten DDR-Bürger schätzten ihre Lage intuitiv richtig ein. Wer nicht unbedingt die
Welt verändern wollte, der stieß in der DDR zwar an Grenzen materiellen Wohlstandes, es mangelte an unternehmerischen Freiheiten
und Reisefreiheit, andererseits konnte jeder in der DDR-Gesellschaft eine Nische finden, in der er sich persönlich verwirklichen
und glücklich mit der Familie und einem großen Freundeskreis leben konnte, und das frei von existenziellen Sorgen. Jede Opposition
aber forderte ein System heraus, das ständig um seine innere Stabilität fürchten musste. Die wenigen Oppositionellen wurden
so lange »bearbeitet« – ihre Persönlichkeitsstruktur analysiert, ihre Schwächen und Gewohnheiten in Erfahrung gebracht, Familienangehörige
und Freunde ausspioniert –, bis man sie unter Kontrolle glaubte oder zumindest Überraschungen weitgehend ausschließen konnte.
Wie so viele andere deutsche Behörden hatte das Ministerium für Staatssicherheit seinen |244| Regierungsauftrag erfüllt, ohne sich selbst überflüssig zu machen.
Wem die Zustände in der DDR unerträglich wurden, der musste das Land verlassen. Solche Menschen hatten ein formloses, mit
»Antrag auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR« überschriebenes Blatt Papier bei der Abteilung Inneres beim Rat
der Stadt oder Rat des Kreises abgegeben und damit den endgültigen Bruch mit ihrem Heimatland vollzogen. Von nun an gab es
kein Zurück mehr. Die Bearbeitung der Ausreiseanträge, im Behördenjargon »Ungesetzliche Übersiedlungsersuchen« (ÜSE), zog
sich oft über Jahre hin. Beschäftigte in staatsnahen Arbeitsverhältnissen, beispielsweise Lehrer, wurden sofort entlassen.
Viele Antragsteller mussten sich jahrelang mit schlecht bezahlten oder nicht ihrer Qualifikation entsprechenden Arbeitsverhältnissen
durchschlagen und fanden oftmals nur in Kirchenverwaltungen eine Anstellung, beispielsweise als Friedhofsgärtner. Die vermeintliche
Oppositionsbewegung zum Ende der DDR rekrutierte sich in erster Linie aus den steigenden Zahlen zu allem entschlossener Antragsteller.
Sie nutzten die Kirchen als Versammlungsräume und wollten, indem sie auf sich aufmerksam machten, ihre Ausreise beschleunigen.
An Reformen in der DDR waren sie nicht mehr interessiert, und auch die konfessionelle Bindung war bei den meisten nur gering
ausgeprägt oder gar nicht vorhanden.
Einerseits erreichten die DDR-Behörden durch das entwürdigende Ausreiseverfahren einen Abschreckungseffekt, andererseits ließ
die Staatssicherheit immer ein Ventil offen, durch das sie oppositionellen Druck ablassen konnte. Die Bundesrepublik bezahlte
sogar dafür, dass sich die DDR ihrer »Problembürger« entledigte. Oft wurden Ausreisewillige so lange schikaniert, bis sie
eine Grenze
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