Abbau Ost
Verhandlungen an den Runden Tisch zwang – unvorstellbar in der DDR. In Ungarn war der
Umgestaltungsprozess Anfang 1989 bereits so weit vorangekommen, dass auf Regierungsebene ganz offen eine enge Zusammenarbeit
mit den westlichen Industrienationen angestrebt wurde. Am 2. Mai 1989 begannen ungarische Soldaten an der Grenze zu Österreich
mit dem Abbau der elektronischen Sicherungsanlagen und des Stacheldrahtverhaus. Zu diesem Zeitpunkt war eine |241| Lockerung des innerdeutschen Grenzregimes überhaupt undenkbar. Noch am 5. Februar 1989, gegen 21.00 Uhr, gerieten Chris Gueffroy
und Christian Gaudian bei der Flucht vom Ost-Berliner Stadtbezirk Treptow in den Westberliner Stadtbezirk Neukölln ins Maschinengewehrfeuer
zweier Postenpaare. Die beiden Männer, 20 und 21 Jahre alt, hatten die Hinterlandmauer schon überwunden, kamen aber beim Übersteigen
des Signalzauns ins Stolpern und lösten Alarm aus. Chris Gueffroy wurde schwer getroffen und starb innerhalb weniger Minuten.
Christian Gaudian, von einem Geschoss am Fuß verletzt, wurde am 24. Mai 1989, wegen »versuchten ungesetzlichen Grenzübertritts
im schweren Fall«, zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Bei der Gerichtsverhandlung stellte sich heraus, dass
die beiden von einem Freund, der gerade bei den Grenztruppen in Thüringen seinen Wehrdienst leistete, gehört hatten, der Schießbefehl
sei ausgesetzt.
Anfang 1987 ging die SED-Führung spürbar auf Distanz zur Reformpolitik Michail Gorbatschows. Nach dem Besuch des sowjetischen
Außenministers Eduard A. Schewardnadse im Februar 1987 in Ostberlin, bei dem es auch um eine Neubestimmung des Verhältnisses
von DDR und Sowjetunion ging, erteilte die SED-Führung jeglichen Reformen eine unmissverständliche Absage. Die ökonomische
und soziale Situation in der DDR, hieß es nun offiziell, machten Reformen nach dem von Gorbatschow vorgeschlagenen Muster
nicht erforderlich. Die Bevölkerung, die bislang immer angenommen hatte, der eigene Staat müsse sich dem russischen Diktat
beugen, war fassungslos. Jetzt klammerte sich die DDR-Regierung an einen Standpunkt, an dem nicht einmal mehr die sowjetische
Parteiführung festhalten mochte. Der letzte Funke Hoffnung verglühte am 19. November 1988 mit dem Verbot des ›Sputnik‹. Die
sowjetische, in deutscher Sprache erscheinende Monatszeitschrift ähnelte in Format und Inhalt dem ›Reader’s Digest‹. Die Oktoberausgabe
1988 wurde nur teilweise ausgeliefert. Sie enthielt mehrere kritische Artikel, die sich mit Stalin auseinandersetzten und
den sowjetischen Diktator mit Hitler verglichen. In der Folge wurde die Zeitschrift von der Postzeitungsliste gestrichen,
was praktisch einem Verbot gleichkam.
|242| Die DDR erschien ihrer Bevölkerung als der hoffnungsloseste Fall unter allen Ostblockstaaten. Immer mehr Menschen hielten
das nicht mehr aus. Wer die ständige Bevormundung nicht mehr ertragen konnte, wer seinen Lebensweg und sein persönliches Glück
nicht länger ideologischen Zwängen unterordnen mochte und immer wieder an Grenzen stieß, entschied sich für die Ausreise.
Im Wendejahr 1989 erreichte die Ausreisewelle ihren Höhepunkt. Allein im Sommer 1989 hatten 120 000 DDR-Bürger Übersiedlungsanträge
gestellt. In der ersten Hälfte des Wendejahres konnten bereits 46 000 Menschen die DDR auf legalem Wege verlassen. Weiteren
Zehntausenden ging das Behördenverfahren nicht schnell genug, sie flohen über die ungarische Grenze nach Österreich, besetzten
Botschaften oder kehrten von offiziell genehmigten Besuchsreisen in die Bundesrepublik nicht mehr zurück. Im Ministerium für
Staatssicherheit war eigens eine »Zentrale Koordinierungsgruppe« geschaffen worden, die sich mit dem Problem der »Verbleiber«
auseinandersetzte. Diese Koordinierungsgruppe registrierte zwischen 1976 und 1985 jedes Jahr rund 320 »Verbleiber«, wobei
Rentner nicht mitgezählt wurden. Beginnend mit dem sowjetischen Entspannungskurs gingen die Zahlen stetig nach oben. 1986
kehrten 1299 Ost-West-Reisende nicht in die DDR zurück, 1987 waren es 3 235, 1988 stieg die Zahl auf 5 898, und 1989, bis
Ende Oktober, kehrten 8 746 Menschen trotz familiärer Bindungen der DDR den Rücken zu und blieben in Westdeutschland. Wenn
man sich klarmacht, dass zurückgebliebene Familienangehörige mit behördlichen Restriktionen rechnen mussten und die Betroffenen
nicht sicher sein konnten, ob sie sich in ihrem Leben jemals
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