Abbau Ost
niemand für möglich gehalten. Die Presse bemühte
die üblichen Globalisierungsklischees von asiatischen Billigproduzenten und Niedriglohnstandorten und sah eine neue |141| Gefahr über die deutschen Hightechstandorte hereinbrechen, die zu einer aggressiven Eroberungsstrategie aufbrechende asiatische
Konkurrenz, die es nun auf das Know-how, die Vertriebswege und Markennamen des Westens abgesehen habe. Zwar klang in den Berichten
kurz an, dass Managementfehler gemacht worden seien und die Siemenstochter Markentrends wie Klapp- und Fotohandys verschlafen
habe, doch eine wirklich kritische Analyse, warum es an dem angeblichen Hightechstandort Deutschland offensichtlich nicht
möglich war, konkurrenzfähige Mobiltelefone zu entwickeln und zu fertigen, ließ sich nirgendwo nachlesen. Im Gegenteil, die
heimischen Gazetten übertrafen sich gegenseitig in einer Mischung aus Selbstmitleid und boshaften Seitenhieben auf die asiatischen
Billig-Konkurrenten. Unübertroffen blieb allerdings die Frage des Nachrichtenmagazins ›Der Spiegel‹ an den taiwanesischen
Konzernchef: »Müssen die bisherigen Siemens-Mitarbeiter künftig so hart arbeiten wie die Chinesen?« – »Wir erwarten nicht«,
antwortete Lee Kuen-Yao, »dass die Deutschen so hart arbeiten wie die Chinesen. Aber in jedem Fall müssen sie erkennen, dass
sich die Handy-Sparte in einer sehr kritischen Lage befindet und dass jeder verlieren wird, wenn wir uns gegen den Wandel
sperren.«
Die Probleme waren nicht neu. Schon seit Jahren bereitete der weltweit 6000 Mitarbeiter zählende Geschäftsbereich dem 150
Jahre alten Traditionsunternehmen große Schwierigkeiten, zuletzt fielen täglich eine Million Euro Verlust an. Im Sommer 2002
wurde wegen miserabler Betriebsergebnisse für die deutschen Standorte in Kamp-Lintfort und Bocholt ein Ergänzungstarifvertrag
ausgehandelt und von der Prämienentlohnung abgerückt, damit Personalkosten gespart werden konnten. Aber trotz ehrgeiziger
Pläne und reichlich fließender Subventionen konnten die Mobiltelefone von Siemens mit den Produkten anderer Wettbewerber immer
weniger mithalten. Die Konzernleitung suchte verzweifelt nach einer Lösung und fand schließlich in der BenQ Corporation einen
Interessenten. Bei all den Problemen, die auf der Konzerntochter lasteten, konnten Siemensmanager keinerlei Forderungen stellen,
die Übergabemodalitäten erinnerten an eine |142| Treuhandprivatisierung in Ostdeutschland zu Beginn der 90er Jahre. Siemens zahlte eine gehörige Mitgift, damit das Tochterunternehmen
die Familie verlassen konnte. BenQ garantierte im Gegenzug die Übernahme der Beschäftigten und sicherte für einen gewissen
Zeitraum den Erhalt der Standorte in Deutschland zu. Zu dem Vertragspaket gehörten auch das Siemenswerk in Shanghai und rund
700 Patente, über die nun der einstige Konkurrent verfügen konnte. Außerdem wurde vereinbart, dass BenQ die Marke Siemens
für 18 Monate und den kombinierten Markennamen Siemens-BenQ bis zu fünf Jahre nutzen konnte. Über die Höhe der von Siemens
gezahlten Mitgift gab es in den Medienberichten sehr unterschiedliche Angaben. Zunächst war von einer »Starthilfe« für den
taiwanesischen Konzern die Rede, dann hieß es, Siemens zahle »rund 250 Millionen Euro« an BenQ, andere Zeitungen bezifferten
den Betrag auf »schätzungsweise 300 Millionen« oder einfach auf »mehrere hundert Millionen Euro«. Der wahre Preis kam erst
am 18. Dezember 2005, einem Sonntag, auf der Hauptversammlung in München ans Licht, als es zum Eklat kam und die Belegschaftsaktionäre
dem Vorstand die Entlastung verweigern wollten. »Mit dem Verschenken des Bereichs Mobilfunk inklusive eines stattlichen Aufgelds
von 800 Millionen Euro für den taiwanesischen Erwerber«, ereiferte sich der Verein der Belegschaftsaktionäre in der Siemens
AG, »hat der Vorstand einen Super-Gau in der Unternehmenspolitik und einen unübersehbaren Imageschaden für den Technologiekonzern
Siemens verursacht.« Die Belegschaftsaktionäre sahen die Schuld allein beim Vorstand, der die Probleme durch Marketingfehler
und einen übertriebenen Sparkurs selbst verursacht habe. Nicht wenige hegten die Vermutung, dass der neue Arbeitgeber gerade
noch die Arbeitsplatzzusagen einhalten, nach Auslaufen der Vertragsbedingungen die Produktionsstandorte in Deutschland schließen
und allenfalls noch das Vertriebsnetz aufrechterhalten würde. Allerdings war das Management zuvor
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