Abbau Ost
Beitrittsgebiet haben sich Parallelgesellschaften herausgebildet, Westdeutsche
bleiben meist unter sich. Eine derart subtile Kolonialisierung ist ohne Beispiel. Die heimische Bevölkerung hat auf ihrem
angestammten Territorium die Staatsbürgerschaft gewechselt und mit der Preisgabe ihres Gemeinwesens auch ihre nationale Identität
verloren. Ohne Vergangenheit gibt es keine Zukunft, ohne eine eigene Geschichte gibt es keine gesellschaftlichen Werte und
keinen Zusammenhalt. Jeder lebt für sich allein. Manchmal laufen sich die alten Bekannten über den Weg, aber es ist nicht
mehr so wie früher, als es die DDR noch gab, als man noch ein Gefühl der Zusammengehörigkeit spürte. Deshalb ist das Beitrittsgebiet
»nur« eine Art Mezzogiorno und kein Nordirland geworden.
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|137| Kulturfaktor Frau
Bevölkerungswissenschaftler berichten, dass ein Einbruch der Geburtenraten, wie er in Ostdeutschland nach dem Anschluss an
die Bundesrepublik erfolgte, in Friedenszeiten noch nirgendwo beobachtet worden sei. Im fünften Jahr nach der Wiedervereinigung,
als der »Geburtenschock« seinen Höhepunkt erreichte, brachte die ostdeutsche Frau statistisch gesehen nur noch 0,77 Kinder
zur Welt. Damit war die Fertilität in Ostdeutschland nur noch etwa halb so hoch wie im alten Bundesgebiet, das mit 1,4 Kindern
pro Frau für sich gesehen selbst das Schlusslicht aller westeuropäischen Staaten markierte. Zur Bestandserhaltung, wie die
Demografen sagen, ist eine Geburtenrate von 2,1 erforderlich. Seit 1995 nähert sich die Geburtenrate im Osten allmählich wieder
der des Westens an, wobei die Geburtenhäufigkeit im Altbundesgebiet tendenziell weiter sinkt und die in ein vergleichendes
Diagramm gezeichnete Linie der etwas aufstrebenden Entwicklung des Ostens entgegenkommt.
Zunächst zeigten sich die Folgen des Geburteneinbruchs an Entlassungen und Teilzeitbeschäftigung von Lehrern und Betreuungspersonal
der Kindereinrichtungen. Schulen und Kindergärten mussten geschlossen werden. Die wirklich drastischen Folgen stehen allerdings
erst bevor. Gegen Ende des zweiten Jahrzehnts nach der deutschen Einigung geht auf dem früheren Territorium der DDR von vornherein
nur noch eine um die Hälfte geschrumpfte Elterngeneration an den Start. Und von diesen ohnehin nur wenigen jungen Leuten,
wandert der überwiegende Teil ab. Die meisten der jungen Frauen werden ihre Kinder nicht in Ostdeutschland, sondern in Westdeutschland
– bevorzugt in Bayern und Baden-Württemberg, im westeuropäischen Ausland oder in Amerika zur Welt bringen. Alle Industrienationen
sind einer demografischen Alterung unterworfen, doch was sich derzeit in den ostdeutschen Ländern abspielt, ist eine Zuspitzung
des allgemeinen Trends. Ostdeutschland empfiehlt sich sozusagen als vorgezogenes Studienobjekt und führt der Welt im Zeitraffer
vor, was mit Gesellschaften geschieht, in denen immer weniger Kinder geboren |138| werden. »Wir haben ein ganz besonderes Problem«, sagt Reiner Hans Dinkel, Inhaber des Lehrstuhls für Demografie an der Universität
Rostock, »dass wir nämlich jetzt seit einigen Jahren verstärkt, wirklich dramatisch verstärkt, Abwanderung vor allem der jungen
Männer und Frauen – also derjenigen, von denen wir uns zukünftig eine Familiengründung versprechen – in einem so erheblichen
Ausmaß haben, dass wir uns eigentlich nicht vorstellen können, dass dies noch Jahrzehnte so weitergeht, weil dann das Land
tatsächlich entleert wäre. Das heißt, es wandern bis zu 10 Prozent eines Geburtsjahrganges innerhalb eines Jahres ab. Wir
bewegen uns im Moment auf einer so starken Abwärtsschiene, dass man, wenn man das nicht sofort stoppt, einen sich selbst verstärkenden
Prozess erlebt, dass es dann in zehn, fünfzehn Jahren überhaupt keine Begründung mehr geben würde, dass ein Investor in das
Land kommt, wenn nämlich endgültig dann die jungen Menschen aus dem Land – nämlich zwangsläufig, nicht freiwillig, sondern
weil sie im Land keine Chance gefunden haben – abwandern müssen.«
Dabei sind es vor allem Frauen zwischen 18 und 29 Jahren, die den Osten verlassen. Jemand, der sich mit dem Problem der Abwanderung
von Frauen beschäftigt, ist Wolfgang Weiß, Privatdozent am Geografischen Institut der Universität Greifswald. Seinen Untersuchungen
zufolge herrscht in einigen Regionen Ostdeutschlands in der »demografisch aktiven Altersgruppe«, wo junge Menschen einen Partner
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