Abbau Ost
schon mehrere Male ausgewechselt
worden, ohne dass sich die Situation spürbar verbessert hätte. Überhaupt hatte die Handy-Tochter schon immer mehr Freiheiten
als andere Geschäftsbereiche. Der Geschäftsbereich Mobiltelefone |143| war das Hätschelkind der Siemensfamilie, es hat der jungen Konzerntochter an nichts gefehlt. Der in die Jahre gekommene, behäbig
wirkende Großkonzern wollte aller Welt beweisen, dass er auch bei den neuen, schnelllebigen Kommunikationstechnologien mithalten
kann, und das sogar am Standort Deutschland. Die Entwicklung und Herstellung von Mobiltelefonen ist das ideale Geschäftsfeld
in einem Hochlohnland, denn der Lohnkostenanteil beläuft sich nur auf etwa sechs Prozent. Für einen Technologiekonzern sind
Mobiltelefone von allergrößtem Interesse und die wohl größte Herausforderung überhaupt. Mobiltelefone sind klein, für fast
jeden Verbraucher erschwinglich und üben großen Einfluss auf unseren Alltag aus. Im Übrigen kommen die Trends keineswegs nur
aus Asien. Einige hundert Kilometer nördlich der Konzernzentrale, in Finnland, behauptet der einstige Gummistiefelproduzent
Nokia die Marktführerschaft. Der frühere Siemens-Chef Heinrich von Pierer reiste sogar in den Norden und nahm selbst in Augenschein,
warum Nokia scheinbar mühelos gelang, womit sich Siemens so schwertat und anders als der deutsche Wettbewerber bei dem enormen
Tempo der Mobilfunkbranche mithalten konnte, eigene Markentrends setzte und sich gegenüber asiatischen Wettbewerbern behauptete.
Wer Nokia verstehen will, muss zunächst die Finnen verstehen, und Nokia nicht isoliert, sondern als gesellschaftliches Phänomen
betrachten. Das beginnt mit einem der weltbesten, auf Chancengleichheit und individuelle Förderung gegründeten Bildungssystem
und dem hohen gesellschaftlichen Stellenwert des Lehrerberufs, setzt sich fort über die schon in jungen Jahren erworbene Fähigkeit
zur Zusammenarbeit, erfordert die Anerkennung von Leistungen, kritische Selbsteinschätzung und ständige Lernbereitschaft.
Das bedingt hierarchiefreie Unternehmensstrukturen, verlangt Achtung und Respekt auch gegenüber einfachen Arbeiten und den
Menschen, die sie ausführen, und endet bei einem wirklich motivierenden, ein Gemeinschaftsgefühl erzeugenden Führungsstil.
Wieder zurück in Deutschland, wird deutlich, dass die Siemens AG dies alles nicht allein schaffen kann. Der Konzern ist auf
die Mitwirkung der ganzen Gesellschaft angewiesen. Die gesellschaftlichen |144| Rahmenbedingungen müssen stimmen, dann kann es auch in Deutschland gelingen, schnell und kundennah Mobiltelefone zu entwickeln
und herzustellen, dabei mit den Besten mitzuhalten und sogar eigene Trends zu setzen.
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Die ehemalige
DDR
Selbst heute ist ständig von der früheren oder ehemaligen DDR die Rede. Gesprochen wird dabei nicht immer über einen vergangenen,
historischen Zustand, sondern allzu oft über ein Gemeinwesen, das die politische und wirtschaftliche Nachfolge der DDR angetreten
hat, sich aber grundlegend von Westdeutschland unterscheidet. Altbundesbürger und ehemalige DDR-Bürger sind mit ständigen
Gegenüberstellungen beider deutscher Staaten aufgewachsen, doch im Gegensatz zu den ehemaligen DDR-Bürgern haben viele Altbundesbürger
die alten Denkmuster bis heute nicht abgelegt. An die Stelle des »Vergleichs der Systeme« ist der Vergleich der Regionen getreten.
Diese Altbundesbürger haben ihren geistigen Horizont nicht auf die neue, das Gebiet der ehemaligen DDR einschließende Bundesrepublik
erweitert und bewahren einen Rest deutscher Zweistaatlichkeit.
Aber die »ehemalige DDR« oder ein Gemeinwesen, das eine wie auch immer geartete Eigenständigkeit suggeriert, gibt es nicht
mehr. Ohne Warenlieferungen zumeist westdeutscher Produzenten sähe es in den Regalen ostdeutscher Supermärkte traurig aus.
Auf sich allein gestellt, wäre die ostdeutsche Wirtschaft nicht in der Lage, die eigene Bevölkerung mit dem Notwendigen zu
versorgen. Bei dem hohen Grad der Arbeitsteilung hätte damit jede entwickelte Industriegesellschaft ihre Probleme, insofern
handelt es sich nur um ein Gedankenexperiment, das die ostdeutschen Defizite verdeutlichen soll. Würde man aber Ostdeutschland
– eine Region, die noch vor nicht allzu langer Zeit für sich selbst sorgte – heute sich selbst überlassen, müsste die internationale
Staatengemeinschaft binnen weniger Tage Lebensmittel, Medikamente und
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