Abbau Ost
verfuhren wie seinerzeit die Siegermächte. Ihre Opfer waren umsonst. Ihre bewunderungswürdige Anpassungsfähigkeit
hat sich nicht ausgezahlt. Sie sind noch immer nicht angekommen. Wieder leben sie in einer Gesellschaft, die im Niedergang
begriffen ist. Wieder steht eine Zäsur an, wieder ein Krisenszenario, wieder ein Staat, dessen politische und wirtschaftliche
Rahmenbedingungen grundlegender Korrekturen bedürfen. Ein ganzes Volk, das sich auf den Weg gemacht hatte, das frei war von
jedweden Generationslasten, von Schattenhaushalten und Verpflichtungen gegenüber Millionen Beamten und öffentlichen Angestellten
und lediglich für den heute geradezu lächerlich erscheinenden Schuldenbetrag von nicht einmal 25 Milliarden D-Mark aufkommen
musste, ein Volk, das leistungsbereit und wohlstandshungrig war, das viele Kinder großzog und ein zukunftsfähiges Bildungssystem
unterhielt, wurde um seinen Neuanfang betrogen. Die DDR-Bürger wollten sich von staatlicher Bevormundung befreien, sie wollten
ein wirklich demokratisches Gemeinwesen, eine wirtschaftliche Perspektive und ein Leben in Wohlstand. Stattdessen bekamen
sie den bürokratischsten und kostspieligsten Staat der Welt und wurden zugleich der Möglichkeiten beraubt, damit sie ihn auch
bezahlen können.
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|149| TEIL ZWEI
Der große Verwaltungsakt
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Wilde Kreaturen
Mit dem Gongschlag der deutschen Einigung holten in Westdeutschland 35 000 Beamte ihre Koffer und Reisetaschen unter den Betten
hervor. Sie packten eilig ein paar Sachen zusammen und liefen zum Auto. Es ist verbürgt, dass einige Autos, besonders die
jüngerer Beamter, nicht sofort ansprangen. Aber irgendwie bekamen sie die alten Kisten in Gang und holten das Letzte aus ihnen
heraus. Die Fahrt ging über die holprigen Straßen des Beitrittsgebiets. Kreuzungen und Ortschaften waren schlecht ausgeschildert.
Ständige Staus und Abgasfahnen aus knatternden Zweitaktmotoren stellten die Geduld der Staatsdiener auf eine harte Probe.
Aber es galt, keine Zeit zu verlieren. Letztlich waren es zumeist geografische Vorteile, die das rechtzeitige Eintreffen begünstigten.
In Mecklenburg-Vorpommern hatten die Beamten aus Schleswig-Holstein einen kleinen Vorsprung, in Sachsen-Anhalt lag eher Niedersachsen
ein wenig vorn, und um die Posten in den neu zu schaffenden Ministerialbürokratien Thüringens und Sachsens lieferten sich
Staatsdiener aus den süddeutschen Ländern ein wildes Rennen.
Die Verwaltungsfachkräfte richteten sich notdürftig an den wackeligen DDR-Schreibtischen ein und erwarteten ungeduldig das
Eintreffen erster Personalcomputer. Derweil ließen sie sich ihren Einsatz fürstlich honorieren, kassierten die sogenannte
Buschzulage und Trennungsgeld, profitierten von Steuervergünstigungen und klagten ansonsten über schnell steigende Mieten,
schlechten |150| Wohnkomfort und das miserable Freizeitangebot. Nur die Aussicht auf etwas Größeres als Trennungsgeld, Buschzulage und Steuervergünstigungen
ließ sie all die Entbehrungen ertragen. Die meisten Beamten der ersten Stunde konnten ihrer trägen Staatsdienerkarriere einen
gehörigen Schub verleihen und in Besoldungsgruppen vorrücken, die ihnen zu Hause im Westen lange Zeit, wenn nicht gänzlich
verwehrt geblieben wären. Es waren diese, die Gunst der Stunde nutzenden Beamten, die nahezu alle Führungsposten in den fünf
neuen Ministerialbürokratien besetzten. Sie forcierten die Einstellung weiteren, aus dem Westen kommenden Personals, beschäftigten
die Angestellten der DDR-Verwaltungen mit den einfacheren Arbeiten, verordneten ihnen Weiterbildungen und Qualifizierungen
und traktierten sie mit Stasiüberprüfungen. Diese Beamten unterwiesen die gerade gewählten, noch unsicheren ostdeutschen Politiker
in westdeutschem Verwaltungsrecht und warfen einen bunten Patchwork-Föderalismus über die fünf neuen Verwaltungsgebiete. Kamen
die für das Schulwesen zuständigen Beamten aus Bayern, bekam das Bundesland ein Schulsystem nach bayerischem Vorbild, kamen
die für Bauen und Wohnen zuständigen Verwaltungsbeamten aus Nordrhein-Westfalen, galt nun eine den nordrhein-westfälischen
Baubestimmungen nachempfundene Landesbauordnung, hatte das Landwirtschaftsministerium eher Beamte aus Schleswig-Holstein angestellt,
galten für die Landwirte jetzt im Wesentlichen die in Schleswig-Holstein üblichen Richtlinien. Mitunter entstanden bei den
Gesetzgebungsverfahren auch
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