Abbau Ost
Verbandsmaterial bereitstellen, und in der kalten Jahreszeit |145| obendrein Decken und Heizmaterial spenden, damit die schlimmste Katastrophe abgewendet werden kann. Die Unselbständigkeit
ist derart ausgeprägt, dass sich im Osten nichts ändern kann, was nicht zuvor im Westen oder in Berlin verändert wurde. Die
Ostdeutschen haben auf die Verhältnisse, in denen sie heute leben, weniger Einfluss als auf die Zustände in der damaligen
DDR. Das Land, in dem sie leben, gehört ihnen noch nicht einmal. Insgesamt 87 Prozent des Volksvermögens wurden nach Erhebungen
des Treuhand-Untersuchungsausschusses von Altbundesbürgern vereinnahmt. Ausländische Investoren erwarben etwa sieben Prozent
der früheren DDR. Am wenigsten, gerade sechs Prozent, bekamen die ehemaligen DDR-Bürger von ihrem einstigen Besitz. Sie arbeiten
heute, so sie eine Arbeitsstelle haben, in Unternehmen, die ihren Sitz im Westen Deutschlands haben, unter der Anleitung westdeutscher
Manager und Eigentümer. Sie haben dieselben westdeutschen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, wählen dieselben Parteien,
mühen sich mit derselben repräsentativen Demokratie und demselben Gesetzgebungsparlamentarismus und einer nach dem westdeutschen
Dienstrecht organisierten Ministerialbürokratie ab. Heute unterhält der Osten Deutschlands genau die gleichen Schattenhaushalte
für die Beamtenpensionen, spart genau wie der Westen an Bildung und Kinderbetreuung und verspielt die Zukunft der heranwachsenden
Generation durch dieselben umlagefinanzierten Sozialversicherungen.
Das westdeutsche Modell wurde mit der D-Mark eins zu eins auf Ostdeutschland übertragen und alle Spuren, die auch nur entfernt
an die DDR erinnerten, restlos getilgt. Der Osten ist heute durch und durch »westdeutsch«, und was der Westen daran kritisiert,
ist – bei allen Bemühungen um Distanz – das eigene Abbild. Den Betrachtern schaudert vor sich selbst. Was sie sehen, ist ihr
eigenes Werk, ihre eigenen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, ihre eigenen Gesetze und Maßgaben menschlichen
Zusammenlebens. Die Bundesrepublik kann ihren eigenen Anblick nicht ertragen. Konnte sich eine Nation je zuvor derart kritisch
in ihrem eigenen Spiegel betrachten? Wurde einer |146| Nation jemals zuvor eine so eindringliche Warnung zuteil, dass ihre gegenwärtigen wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen
nicht für die Zukunft taugen?
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Die ostdeutsche Tragödie
Seit mindestens drei Jahrzehnten erleben die ehemaligen DDR-Bürger nur Stagnation und Niedergang. Nach der langen Durststrecke
bis zum Ende der DDR sind sie, statt in eine Zeit des Optimismus und des wirtschaftlichen Aufschwungs, in den langen, quälenden
westdeutschen Abschwung hineingeraten. Eine Wende ist immer noch nicht abzusehen, die Zukunft verheißt nichts Gutes. Gegen
Ende des zweiten Jahrzehnts im wiedervereinigten Deutschland sind ihre Perspektiven weit schlechter als im Wendejahr 1989.
Auch Ostdeutsche haben von der Einigungskonjunktur profitiert, doch Hunderttausende bekamen beruflich nie wieder einen Fuß
auf den Boden. Im Beitrittsgebiet lebt ein Sechstel der deutschen Bevölkerung und die Hälfte der Arbeitslosen. Im Nachhinein
sagten einige ehemalige DDR-Bürger, besonders jene, die auch während der Teilung familiäre Kontakte zum Westen unterhielten,
sie hätten sich nie Illusionen hingegeben und alles genau so kommen sehen. Erst bei näherem Nachfragen räumen sie ein, dass
sie vor allem die Gesetze des Marktes und die schnell hereinbrechende soziale Eiszeit meinen. Nicht ein DDR-Bürger konnte
voraussehen, dass Westdeutschland die ostdeutsche Bevölkerung derart übervorteilen würde, dass Politiker, Beamte und Treuhandbeauftragte,
Investoren und Erben von Alteigentümern, Glücksritter und Betrüger – die ganze bunt zusammengewürfelte Schar der Konquistadoren
– alle Hemmungen fallen lassen und sich derart von ihrer Gier hinreißen lassen würden, dass sie gegen die eigenen, nun gesamtdeutschen
Interessen verstießen.
Das ist die Tragik der ehemaligen DDR-Bürger, dass sie, nachdem die Sowjetunion sie endlich freigegeben hatte, den ostdeutschen
gegen den westdeutschen Obrigkeitsstaat eingetauscht haben. Nach mehr als vier Jahrzehnten unter sowjetischer Aufsicht, |147| in denen sich die DDR-Bürger selbst bewachen mussten, sind sie den eigenen Landsleuten in die Hände gefallen, die mit ihnen
ebenso schonungslos
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