Abby Cooper 03 - Hilferuf aus dem Jenseits
Sessel, ebenfalls mit ein paar Seidenlassen, und davor ein niedriger Tisch mit einer indianischen Figur in der Mitte neben einer Kleenexschachtel.
An der gegenüberliegenden Wand hingen goldgerahmte Urkunden. Rechts daneben stand ein vollgestopftes Bücherregal. Der kirschrote Schreibtisch war ordentlich aufgeräumt, nur auf einer Seite lag ein großer Aktenstapel.
Dr. Michaels bot uns die Sitzgruppe zum Platznehmen an. Sie selbst setzte sich an den Schreibtisch, stützte die Ellbogen auf und faltete die Hände.
Sobald wir saßen, fragte sie: »Was kann ich für Sie tun, Agent Rivers?«
Ich lehnte mich in die Polster und hielt den Mund. Die Situation war heikel, denn das war keine offizielle Ermittlung, und darum überließ ich lieber Dutch das Reden. Außerdem hatte ich dadurch Gelegenheit, mir Dr. Michaels Ausstrahlung näher anzusehen.
»Was können Sie mir über Jean-Luke Carlier sagen?«, fragte Dutch und holte sein Notizbuch heraus.
»Worum geht es denn genau?«
»Soweit wir wissen, wurde er vor ungefähr fünf Jahren durch seinen Bruder James eingeliefert. Mir ist klar, dass Sie uns aufgrund der ärztlichen Schweigepflicht nicht viel sagen dürfen, aber was immer Sie zu sagen bereit sind, könnte uns vielleicht schon weiterhelfen.«
Dr. Michaels sah uns ein paar Augenblicke lang an und überlegte vermutlich, warum das FBI daran interessiert war. »Was hat Mr Carlier getan, das eine Ermittlung des FBI rechtfertigt?«
»Zunächst einmal hat er einen Berater des FBI angegriffen und sich der Festnahme widersetzt«, erklärte Dutch.
Ich musste ein Grinsen unterdrücken, als ich hörte, wie er mich bezeichnete und seine Schläge mit der Krücke in Widerstand gegen die Staatsgewalt umdeutete.
Dr. Michaels wurde blass. »Wir haben die örtlichen Behörden deutlich auf seine Neigung zu Gewalttaten hingewiesen und sind eifrig bemüht, ihn zu finden.«
»Ich weiß, und das wissen wir zu schätzen«, sagte Dutch freundlich. »Ich will Sie wegen der ärztlichen Schweigepflicht nicht in eine Klemme bringen, aber wir sind für jeden noch so kleinen Hinweis dankbar.«
Dr. Michaels machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Angesichts der aktuellen Diagnose und der Tatsache, dass er geflohen ist, ist die Schweigepflicht hinfällig.«
Ich stieß einen stillen Seufzer aus. Wenn das stimmte, würden wir vielleicht endlich etwas Wesentliches in Erfahrung bringen.
»Er ist eine Gefahr für sich und andere«, sagte Dutch.
»Ja.«
»Wie würden Sie seinen derzeitigen Zustand beschreiben?«, fragte Dutch.
»Jean-Luke Carlier wurde ursprünglich eingewiesen, weil er suizidgefährdet war. Er wurde unter Beobachtung gestellt, bis wir uns über seinen Geisteszustand ein Urteil bilden konnten. Wie sich nach kurzer Zeit herausstellte, liegt bei ihm eine Borderline-Persönlichkeitsstörung mit dissoziativer Tendenz vor.«
»Könnten Sie mir das übersetzen?«, bat Dutch lächelnd.
»Hinsichtlich seiner Absichten und Entschlossenheit ist er ein gewissenloses Raubtier«, begann Dr. Michaels. »Er erschleicht sich das Vertrauen argloser, verletzlicher Menschen, dann plant er akribisch ihre Vernichtung. Er ist nicht mitleidsfähig. Mitleid ist eine Empfindung, die er nicht versteht, er kann sie aber bei jedem hervorrufen, der mit ihm in Kontakt kommt.«
»Du lieber Himmel«, murmelte ich und bekam eine Gänsehaut.
»Ganz recht«, bekräftigte Dr. Michaels mit gefasster Miene, doch ihre Augen verrieten tiefe Besorgnis. »Im Lauf der letzten Jahre wurde er zunehmend gewalttätiger. Er griff immer wieder Patienten und Mitarbeiter an und wurde schließlich isoliert.«
»Wie behandeln Sie solch einen Menschen?«, fragte Dutch.
»Gewöhnlich geben wir Psychopharmaka und Sedativa. In seinem Fall war diese Behandlung jedoch ineffektiv, einmal weil er die Einnahme mit großem Einfallsreichtum umging, und zum anderen schlugen die meisten Mittel bei ihm nicht an, weil sein Stoffwechsel dies verhindert.«
»Er hat es geschafft, seine Tabletten nicht zu nehmen? Wie ist das in einer solchen Klinik möglich?«
Dr. Michaels bedachte Dutch mit einem langen Blick und sagte: »Sie unterschätzen offenbar seine Intelligenz. Er hat einen IQ von 168. Das qualifiziert ihn zur Mitgliedschaft bei Mensa.«
Dutch stieß einen leisen Pfiff aus. »168?«
»Acht Punkte über dem Genie«, erklärte Dr. Michaels. »Und das macht ihn noch gefährlicher.«
»Das ändert die Sache«, sagte Dutch mit einem eindringlichen Blick zu mir. »Dr. Michaels,
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