Abby Cooper 03 - Hilferuf aus dem Jenseits
haben Sie ein Foto von ihm?«
»Ja, einen Augenblick bitte.« Sie ging an ihren Aktenschrank, nahm einen Ordner heraus und brachte ein Foto zum Vorschein. Das gab sie Dutch, der es kurz ansah und an mich weiterreichte.
Als ich das Gesicht darauf sah, krümmte ich mich innerlich zusammen. Jean-Luke starrte mich zerzaust und zornig an. Er hatte dunkle Haare, die an mehreren Stellen vom Kopf abstanden und ansonsten fettig und ungekämmt waren. Sein Bart war ungepflegt und verbarg das halbe Gesicht. Sein stechender Blick war genau in die Kamera gerichtet. Er trug einen blauen Overall, der verknittert aussah. Ich suchte nach Ähnlichkeiten mit seinem stillen, gut gekleideten Bruder, doch abgesehen vom Körperbau waren sie völlig verschieden.
»Können Sie uns sagen, wie er fliehen konnte?«, fragte Dutch.
»Angesichts seiner Gefährlichkeit haben Sie doch sicher besondere Sicherheitsvorkehrungen getroffen.«
»Ich kann Ihnen versichern, Agent Rivers, dass wir jede nur denkbare Vorsichtsmaßnahme ergriffen haben.«
»Wie ist es also passiert?«
»Wie gesagt, er erwies sich als wesentlich intelligenter und auch geduldiger, als wir ihn eingeschätzt hatten. Diesen Fluchtweg haben wir nicht voraussehen können, und um ehrlich zu sein, sind wir noch immer verwundert. Wir fanden einen der Hilfspfleger, der durch Medikamente betäubt war, an einer Tür liegen, zu der Jean-Luke eigentlich keinen Zugang erhalten konnte. Der Pfleger erinnert sich an gar nichts, und ich kann mir nicht erklären, wie Jean-Luke das eingefädelt hat. Aber das nur am Rande ... Das wirkliche Problem besteht darin, dass er sich in der ahnungslosen Öffentlichkeit bewegt und sich höchstwahrscheinlich schon ein Opfer ausgesucht hat.«
»Wen würde er nehmen?«, fragte Dutch.
»Jemanden, der seine Bedürfnisse am besten befriedigen kann.«
»Zum Beispiel?«
Dr. Michaels seufzte. »Nun, er braucht auf kurze Sicht Geld, Essen und einen Unterschlupf, auf lange Sicht ein Beförderungsmittel und eine neue Identität. Er wird nach jemandem suchen, den er entsprechend manipulieren kann, um sich das alles zu beschaffen.«
»Meinen Sie, er würde seinen Bruder um Hilfe bitten?«, fragte ich, da mein sechster Sinn kribbelte.
Dr. Michaels richtete ihren Blick auf mich und antwortete: »James Carlier ist ein guter Mensch, dem sein Bruder sehr am Herzen liegt, obwohl dieser nicht imstande ist, die Zuneigung zu erwidern. Anfangs kam er ihn fast wöchentlich besuchen. Dann allerdings fiel etwas vor, und James stellte die Besuche ein. Ich habe ihn zwar gewarnt, glaube aber eigentlich nicht, dass Jean-Luke zu ihm geht.«
»Wissen Sie, was seinerzeit vorgefallen ist?«, fragte Dutch.
»Nein. Aber etwa drei Tage vor der Flucht kam er noch mal, um Jean-Luke zu sehen, das erste Mal seit etlichen Monaten.«
»Drei Tage vor der Flucht?«, fragte ich.
»Ja.«
»Welches Datum war das?«
»Lassen Sie mich mal sehen ...« Dr. Michaels zog ihren Kalender heran. »Ich weiß noch, dass es ein Dienstag war, weil ich am Vormittag Visite hatte. Es muss demnach der 29. Dezember gewesen sein.«
»Dein Geburtstag«, sagte Dutch leise und zwinkerte mir zu.
»Und der Tag des Hauskaufs«, sagte ich und bekam wieder eine Gänsehaut.
»Wie meinen Sie bitte?« Dr. Michaels schaute verwirrt.
»Nichts weiter«, sagte Dutch rasch. »Ich denke, wir wissen jetzt das Wesentliche. Danke, dass Sie uns Ihre Zeit geopfert haben, Doktor.« Er stand steifbeinig auf.
»Gern geschehen«, sagte sie und kam hinter dem Schreibtisch hervor, um uns zur Tür zu bringen.
Ich blieb noch einen Moment sitzen und schaute sie neugierig an, denn irgendetwas an ihrer Ausstrahlung störte mich. Sie und Dutch gingen bereits zur Tür, dann drehten sie sich nach mir um.
»Kommst du?«, fragte Dutch.
»Es ist nicht Ihre Schuld«, sagte ich zu Dr. Michaels.
Sie lächelte gequält. »Es fällt schwer, sich nicht verantwortlich zu fühlen, wenn jemand wie Jean-Luke Carlier draußen herumläuft.«
»Das meine ich nicht«, sagte ich, während mir eine Botschaft durch den Kopf wirbelte. »Sie haben versucht, sie zu retten, aber niemand hätte sie retten können.«
Dr. Michaels wurde blass und wich zurück, als hätte ich sie geschlagen. »Was sagen Sie da?«
»Ich meine Ihre Patientin, die Selbstmord begangen hat. Es war nicht Ihre Schuld. Die Wunden waren zu tief, und Sie konnten nichts mehr tun. Sie haben Sie nicht im Stich gelassen ... das Leben hat sie im Stich gelassen.«
»Wie ...?« Dr. Michaels
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