Abby Lyne 01 - Verbannt ans Ende der Welt
lärmende Treiben. Das Gedränge war jetzt so groß, als wäre halb London nach Haymarket geströmt.
Ein schlaksiger, schwarzhaariger Junge in einer Flickenjoppe tauchte eben in diesem Moment drüben auf dem Gehsteig vor der Taverne auf. Er lungerte vor dem Eingang herum, nicht weit von der Stelle, wo der Bettler am Boden kauerte. Er mochte siebzehn sein, also drei Jahre älter als sie.
Abby kannte ihn ganz flüchtig, eigentlich mehr vom Sehen her. Er trieb sich gelegentlich in dieser Gegend herum. Sie glaubte, ihm schon mehrfach im Gedränge des Marktes begegnet zu sein und gehört zu haben, wie ihn jemand Edmund oder Edward gerufen hatte. Aber das war auch schon alles, was sie über ihn wusste. Ihre Mutter ließ ihr nicht viel Zeit für Nichtstun. Sie musste ihr bei der Arbeit zur Hand gehen und ihren Teil zum Lebensunterhalt beitragen.
Sie vermochte nicht zu sagen, was sie veranlasste, dem Jungen ihre Aufmerksamkeit zu schenken. Vielleicht ahnte sie, dass es ihm nicht viel besser erging als ihr. Was auch immer der Grund sein mochte, sie ließ ihn auf jeden Fall eine geraume Zeitlang nicht aus den Augen.
Sie verlor jedoch bald das Interesse an ihm, denn viel zu beobachten gab es da nicht. Er tat nichts. Weder bettelte er noch schien er auf irgendjemanden zu warten. Er lehnte einfach nur an der Hauswand neben der Taverne und beobachtete scheinbar völlig teilnahmslos den dichten Verkehr auf der Straße und den scheinbar endlosen Strom vorbeiziehender Passanten.
Abby seufzte. Es wurde Zeit, dass sie weiterging. Die Kälte zog schon vom Steinsockel durch die Kleider. Und ihr stand ja noch der schwere Gang zum Pfandleiher bevor. Gerade wollte sie von ihrem harten Sitz herunterrutschen, als etwas passierte, was ihre Aufmerksamkeit auf sich zog.
Eine Mietkutsche hatte ein Stück oberhalb des Wirtshauses gehalten. Ein gut gekleideter Herr von gedrungener Statur und beachtlicher Leibesfülle stieg aus, strich seinen weinroten Gehrock glatt und drückte dem Kutscher ein paar Münzen in die Hand.
Dann geschah auf einmal so unglaublich viel in so kurzer Zeit!
Abby sah nicht den Hagel kleiner, spitzer Steine, der das Pferd der Droschke traf. Sie sah nur, wie der schon betagte Grauschimmel mit einem erschrockenen, schrillen Wiehern aufstieg, die Oberlippe weit über die dunklen Zähne hochzog und das Weiße im Auge zeigte. Wild warf er den Kopf hin und her, dass seine zottelige Mähne flog.
Die Kutsche rollte zurück, und der stämmige Mann auf dem Kutschbock stemmte sich nach Halt suchend gegen das Trittbrett, zerrte an den Zügeln, rief dem Grauschimmel einen scharfen Befehl zu und ließ die Peitsche knallen.
Der korpulente Mann sprang erschrocken zurück und stieß gegen den Jungen in der Flickenjacke, der plötzlich nur einen Schritt hinter dem Dicken stand.
Und Abby sah es, obwohl der Junge bewundernswert schnell und geschickt war: Ein blitzschneller Griff, und er hatte dem Mann die Geldbörse aus der Rocktasche gezogen.
Sie saß wie erstarrt und hielt unwillkürlich den Atem an. Ihr Herz schlug plötzlich wie wild, als hätte sie eine unvorstellbare Entdeckung gemacht … oder als wäre sie selbst an diesem frechen Taschendiebstahl beteiligt. Würde er mit seiner Beute entkommen? Es wurde ihr gar nicht bewusst, dass sie bangte, das Verbrechen könnte noch von anderen bemerkt worden sein.
Edmund, oder wie auch immer er heißen mochte, handelte kaltblütig, eben nach den Regeln seines verbrecherischen Gewerbes. Er drehte sich um und entfernte sich ganz ohne Eile, die Verdacht hätte erregen können. Der Kutscher war noch immer mit seinem Grauschimmel beschäftigt, der sich noch nicht beruhigt hatte.
»Mein Gott, es ist ihm wirklich gelungen!«, dachte Abby schon. Zu früh, wie sich im nächsten Moment zeigte.
Der Dieb hatte vielleicht ein Dutzend Schritte zwischen sich und sein Opfer gebracht, als der Bestohlene plötzlich in seine Rocktasche fasste. »Man hat mich bestohlen!«, rief er mit unmännlich schriller, erregter Stimme, fuhr herum und suchte nach dem Dieb. Sein Blick fiel auf den Jungen in der Flickenjacke. Er erkannte ihn, erinnerte sich an die flüchtige Rempelei und setzte ihm nach. »Das ist der Dieb! Haltet ihn! … Haltet den Lump! Er hat mich bestohlen!«, schrie er und deutete auf den Jungen, der nun sein Heil in der Flucht suchte.
Der Dicke wusste, dass er es mit dem jungen Burschen nicht aufnehmen konnte und ihn allein nie zu fassen kriegen würde.
Und so brüllte er, so laut er konnte:
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