Abby Lyne 01 - Verbannt ans Ende der Welt
»Haltet den Verbrecher! Drei Shilling für den, der ihn fängt!«
Der Ruf »Haltet den Dieb!« wurde nun von den Umstehenden aufgenommen und erhielt ein gellendes, vielstimmiges Echo. Überall blieben die Leute stehen, irritiert erst und dann voller Neugier und Sensationslust. Der Verkehr auf der Straße geriet ins Stocken. Verwirrung machte sich breit. Es war alles so schnell gegangen, dass nur ganz wenige mitbekommen hatten, wer nun der Bestohlene war und wer der Dieb.
Zwei, drei Beherzte versuchten sich die Belohnung zu verdienen. Sie stellten sich dem flüchtenden Taschendieb in den Weg und einer von ihnen bekam ihn sogar am linken Jackenärmel zu fassen. Doch er riss sich los, schlug einen Haken und rannte zwischen den Fuhrwerken hindurch über die Straße.
Abby, die längst aufgesprungen war, erschrak. Der Junge lief direkt auf sie zu! Ganz deutlich sah sie sein schmales, verzerrtes Gesicht mit den angsterfüllten Augen und seinen dampfenden, stoßhaften Atem.
Vier, fünf Sätze war er noch von ihr entfernt, als sich ihre Blicke begegneten. Und dann hörte sie seine Stimme, während er keuchend auf sie zulief. »Wir teilen! … Später! … Hau ab damit!«
Etwas fiel in ihren Korb.
Dann war er auch schon an ihr vorbei.
Fassungslos blickte Abby in den Korb und sah eine pralle, mit Goldfäden durchwirkte Geldbörse. Sie allein war schon viel wert. Wie viel Geld wohl in der Börse steckte? Sicherlich ein kleines Vermögen. Warum hatte er das nur getan?
Sie hatte das Gefühl, etwas völlig Unwirkliches zu erleben.
Einen schrecklichen und zugleich doch faszinierenden Tagtraum. Sie war nicht fähig, einen klaren Gedanken zu fassen.
Es waren Gedankenbruchstücke, die sich in wirrer Folge hinter ihrer Stirn jagten.
Abby wusste überhaupt nicht, was sie tat, als sie zwei zögernde Schritte machte, weg vom Steinsockel, in Richtung Torbogen, durch den man in eine schmale Gasse gelangte. Sie war wie in Trance.
»Die Geldbörse! … Sie ist Diebesgut! … Ich muss sie zurückgeben!«, schoss es ihr durch den Kopf.
Fast im selben Augenblick schallte der empörte, anklagende Ruf einer Marktfrau vom Sitz eines mit Kartoffeln beladenen Fuhrwerkes über die Straße: »Sie hat die Geldbörse! Das Mädchen da! Das im braunen Umhang!«, geiferte sie vom Kutschbock. »Ich habe gesehen, wie er sie ihr zugesteckt hat! Das ist seine Komplizin! Dieses verdorbene Flittchen da drüben hat die Börse!«
Die Bezichtigung traf Abby wie ein unerwarteter Peitschenhieb. Entsetzt blickte sie auf und sah, wie die Marktfrau mit einem knorrigen Stock in ihre Richtung fuchtelte.
Bevor Abby wusste, was sie tat, rannte sie auch schon wie von Furien gehetzt durch den Torbogen die Gasse hoch. Es kam ihr überhaupt nicht in den Sinn, den Korb mit der gestohlenen Geldbörse von sich zu schleudern, so verstört war sie. Nur ein einziger Gedanke beherrschte sie: Weg von hier! Weg von dem schreienden Mob, der ihr auf den Fersen war!
Das laute Klappern vieler Schuhe über Kopfsteinpflaster begleitete das wilde Geschrei der Verfolger, die ihr nachhasteten.
Die schrillen Stimmen schmerzten ihr in den Ohren. Was wollten sie von ihr? Sie hatte doch nichts getan. Warum rannte sie überhaupt?
Sie sah vor sich eine Gestalt, die aus einem Hauseingang trat, und wollte ihr ausweichen. Doch ein kräftiger Arm schoss wie ein Riegel vor und brachte sie aus dem Gleichgewicht. Sie stolperte und stürzte der Länge nach auf das harte Kopfsteinpflaster. Der Korb entglitt ihrer Hand, Stoff riss, und eine scharfe Steinkante zog eine lange, blutige Linie über ihren rechten Unterarm.
Benommen blieb Abby liegen.
Doch nicht lange.
Kaum hatten ihre Verfolger sie erreicht, da packten auch schon derbe Hände nach ihr und zerrten sie unsanft hoch, begleitet von einer Mischung aus triumphierenden und bösartigen Zurufen.
»Wir haben sie!«
»Sie haben das Verbrecherflittchen erwischt!«
»Sie hat die Geldbörse wirklich im Korb gehabt! Hier ist sie! … Die drei Shilling gehören mir!«
»Auspeitschen sollte man diese elende Brut! … Man ist sich heute noch nicht einmal am helllichten Tag seines Lebens sicher!«
»Verbrecherpack!«
»Hurengesindel!«
Ein Meer von hassverzerrten Gesichtern umschloss Abby.
Sie wollte zurückweichen, doch man hielt sie fest. Speichel traf sie ins Gesicht. Entsetzen und Ekel erfassten sie.
»Ein Konstabler! … Da kommt ein Konstabler!«, rief jemand in der Menge.
»Die sind nie zur Stelle, wenn man sie braucht«,
Weitere Kostenlose Bücher