Abdahn Effendi. Kleinere Erzählungen
verhängnisvollen Platz gerichtet. Es wurde gewartet, bis der untere Rand der Sonnenscheibe den Horizont beinahe berührte. Da erhob sich der Scheik, um zu sprechen. Er hielt eine kurze, sachgemäße, von allen sonst gebräuchlichen Schimpf-und Schandwörtern freie Rede über die zwischen den beiden Stämmen herrschende Feindschaft, über die Ermordung seines Bruders, über die Ergreifung des Mörders und das ausgesprochene Todesurteil. Dann fragte er Ali Ben Masuhl, ob dieser den Beistand des Imahm 2 verlange oder vor seinem Tode sonst noch einen Wunsch habe. Der Gefragte bat, ihm seinen muhammedanischen Rosenkranz aus der Tasche zu nehmen und in die Hand zu geben. Weiter wolle er nichts. Dann möge man schießen.
»Es ist nicht wünschenswert, auf einer Erde weiterzuleben, auf welcher nicht einmal mehr das Weib Erbarmen hat!« fügte er hinzu.
»Hattest du Erbarmen mit meinem Bruder?« fragte der Scheik, indem er nach der Sonne sah, die schon zur Hälfte verschwunden war.
Schon setzten sich die drei Schützen fest in die Kniee legten die Gewehre an, um sicheres Ziel zu nehmen. In der nächsten Minute mußte das Kommando fallen. Da stand Merhameh von ihrem Sitze auf und rief:
»Halt! Noch gibt es auf dieser Erde Frauen, in deren Herzen das Erbarmen wohnt. Und noch gibt es auf ihr Männer, deren Wort so heilig ist wie Allahs Schwur!«
Sie zog mir das Messer aus dem Gürtel, ging auf den Verurteilten zu, stellte sich grad vor ihn hin und sprach, an den Scheik gewendet, mit erhobener Stimme:
»Grad so wie hier war es bei dem Mir von Ardistan: Rundum die Richter sitzend und er bereit, das letzte Wort, das Todeswort, zu sprechen. Da sandte mich Allah zu Eurer Hilfe und gab mir Worte und Begeisterung, das harte Herz des Herrschers zu erweichen. Ihr wurdet frei. So sei auch dieser frei! Ich fordere ihn von dir, von Euch, vom Stamm der Münazah. Ich halte Euch bei jenen drei Versprechen, die Ihr mir damals nachgerufen habt und heute wiederholtet! Seid Ihr etwa gewillt, sie mir zu brechen?«
Sie sah sich im Kreise um. Niemand antwortete. Ich hatte das, was sie tat, erwartet. Diesen Leuten aber kam es so überraschend, daß sie zunächst nicht wußten, was sie sagen sollten. Da schnitt sie dem Gefangenen die Fesseln durch, so daß er die Hände frei bekam, brachte ihn zu mir herbeigeführt, gab mir mein Messer wieder und sprach, so daß die Richter alle es hörten:
»Ich übergebe ihn dir, Effendi, doch nur einstweilen. Führe ihn von dieser Stelle fort, und beschütze ihn. Ich fordere ihn von dir zurück, so heil, wie ich ihn dir jetzt übergebe!« – – –
Ein sprühendes Leuchten zuckte im Westen auf, um funkelnd nach dem Osten hinzugrüßen. Die Sonne war verschwunden, doch Ali Ben Masuhl lebte noch. Tiefe Stille herrschte rundum. Ich nahm ihn bei der Hand, um mich mit ihm zu entfernen. Jeder hatte gesehen, was geschehen war, aber Keiner wagte es, sich ihm und mir entgegenzustellen. Man machte uns Platz, erstaunt, betroffen, zögernd, aber doch! Da erklang hinter uns die laute Stimme des Scheikes. Das lenkte die Aufmerksamkeit von uns ab auf ihn. Wir erreichten unangefochten unser Zelt. Halef kam hinter uns her.
»Allah sei Dank!« sagte er. »Hier bei unsern Pferden und Waffen haben wir nichts zu fürchten. Ich werde sofort satteln, um für alles gerüstet zu sein.« Und sich an Ali Ben Masuhl wendend, fügte er hinzu: »Fürchte nichts! Hier bist du so sicher wie im Schoße Abrahams. Du stehst unter einem Schutz, der stärker ist als die Macht und Tapferkeit aller Münazah zusammen.«
Nach diesen Worten ging er in die Hürde zu den Pferden. Der von dem Tode errettete Manazah schien gar nicht auf das, was Halef gesagt hatte, zu achten. Er stand hochaufgerichtet und lauschend und schaute nach der Höhe zurück, auf welcher jetzt, wie wir deutlich hörten, Merhameh zu der Versammlung sprach. Zwar konnten wir ihre Worte nicht verstehen, aber ihre Gestalt und jede ihrer Bewegungen zeichneten sich umso genauer und bestimmter vom leuchtenden Hintergrunde des Himmels ab. Die Höhe des Richtplatzes lag nach uns herüber schon im Dämmerschatten; ihre von uns abgewendete Seite aber stand im vollsten, schönsten Glanz des Abendrotes. Die Hunderte der Münazah, die am untern Teile des Abhanges lagerten, wurden von keinem Strahle mehr getroffen. Die Ältesten aber hoch auf der Höhe saßen still wie in goldener Flut; um die ragende Gestalt des Scheikes zuckten diamantene Funken, und Merhameh, die auf einen der
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