Abendfrieden
Torsten?«
Tügel hielt statt einer Antwort eine Hand vor den Mund.
»Hier, jetzt nimm mal einen Kaffee. Dieses Gegähne steckt mich sonst noch an.« Danzik griff nach zwei hohen Tassen und schenkte ein. »Wer kann den Mörder oder die Mörderin überrascht haben?«
»Ein Familienmitglied, das plötzlich zurückgekommen ist. Oder ein Nachbar, der das Zersplittern des Glases an der Terrassentür gehört hat.«
»Nicht schlecht«, sagte Danzik. Wobei »nicht schlecht« bei ihm bereits »gut« bedeutete. »Fragt sich, wann die Scheibe zerschlagen wurde. Wenn die Person Frau Holthusen bekannt war, dann kann das auch nachträglich geschehen sein. Als Täuschungsmanöver, da ja nichts geraubt wurde. Der Täter will suggerieren, dass ein Einbrecher am Werk war, der unterbrochen wurde, weil Frau Holthusen vor Schreck einen Herzanfall erlitten hat.«
»Nicht schlecht«, wiederholte Tügel grinsend. »Jedenfalls hatte der Täter keine Zeit oder Nerven mehr, etwas zu rauben.«
»Kommen wir jetzt zum Highlight unserer Sammlung.« Danzik hielt seinem Kollegen eine Spielkarte vors Gesicht. »Diese Karte lag im Wohnzimmer der Holt-husens unter dem Couchtisch. Auch darauf sind unbekannte Fingerabdrücke. Ein Tarotspiel gibt es aber in dem Haushalt nicht, danach habe ich die Holthusens schon gefragt.«
»Und du meinst, der Täter hat die Karte dort verloren?«
»Wäre denkbar. Jedenfalls habe ich mir das komplette Tarot-Spiel von einer Bekannten besorgt. Und zwar genau die Version, zu der eine solche Karte gehört: Das ›Avalon-Tarot. Arthus und das mythische Land der Seele‹.«
Tügel betrachtete die Karte. »Huuu. Das ist ja schauerlich.« Sie zeigte, wie eine Herde schnaubender Pferde, getrieben von einem Skelett, durch einen blauschwarzen, von Blitzen durchzuckten Himmel raste. Oben auf der Karte stand »13 Tod«. »Ja, der Tod«, sagte Danzik. »Ausgerechnet diese Karte. Überlegen wir weiter. Mit so einem Zukunftskram beschäftigen sich eher Frauen. Jemand hat Frau Holthusen die Karten gelegt. Hat dann nach dem Mord in Panik die Karte verloren oder sie absichtsvoll hingelegt. Als Warnung oder als Rachebeweis.«
»Du bist in Hochform, Chef.« Tügel nahm drei Schlucke Kaffee hintereinander. »Vielleicht sehnt sich die Täterin sogar danach, gefasst zu werden und wirft uns damit ein Lockmittel hin.«
»Jetzt vergiss mal einen Augenblick deine Psycho-Seminare und kehre auf den Boden der Realität zurück.«
»Gut.« Tügel bekaute intensiv einen Kugelschreiber. »Die Holthusen war eine Esoterik-Tante. Vielleicht gibt es ja doch ein Spiel in dem Haus. Die Holthusen hat es im Schrank versteckt, weil sie nicht zugeben wollte, dass sie sich die Karten legt. Wollte was über die Zukunft mit ihrem Galeristen-Freund wissen.«
»Hmm. Natürlich kann man Tarot ebenso gut mit sich selbst spielen, das hat auch meine Bekannte gesagt. Hier ist ein Begleitbuch – damit kann man sich selbst alles deuten.«
»Wir sollten einen Durchsuchungsbeschluss für die Wohnung erwirken.«
»Ja. Wenn das Spiel dort ist, werden wir es finden. Torsten, du klärst inzwischen, wo solche Spiele verkauft werden. Vielleicht kannst du ja was über die Kundinnen erfahren.«
»Und was ist jetzt mit Anja Holthusens Alibi-Zeugin? Soll die ins Präsidium kommen?«
»Isabel Ackermann. Nein, die suchen wir zu Hause auf. Im persönlichen Umfeld kommen oft unerwartete Dinge zutage.«
Am Abend fuhren sie an der Isestraße 56 vor. Das Haus war eines der berühmten Jugendstil-Häuser, auf deren Klingelschildern man die massierte Stadtteil-Präsenz von prominenten Schauspielern, Feuilletonisten und TV-Leuten ablesen konnte. Isabel Ackermann arbeitete freiberuflich als Innenarchitektin für eine Wohnzeitschrift und fühlte sich deshalb zweifelsfrei als Szenegirl. Wobei »girl« nicht mehr ganz passte. Wie ihre Freundin Anja Holthusen war sie bereits 46. Was sie aber nicht hinderte, zwischen Jüngeren im ›Madhouse‹ abzutanzen oder im ›Eisenstein‹ mit Küsschen verteilen ihr In-Sein zu beweisen. »Bitte setzen Sie sich«, sagte Isabel Ackermann und drehte sich hektisch in verschiedene Richtungen. »Ich komme grad aus dem Studio, eigentlich hätte ich noch bleiben müssen, aber dann hab ich den Rest meiner Stylistin übergeben, Suscha ist wirklich megagut, wir machen grad eine süße Kinderzimmer-Produktion und – möchten Sie was trinken? Ich koch mir jetzt sowieso meinen Abendtee, jeden Abend einen Yogi mit Honig, also, ohne den Yogi könnte ich
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