Abendfrieden
sie nieder, zertrommelten ihr Immunsystem, bis es jetzt erschöpft zusammengebrochen war.
Sie versank erneut in ein schläfriges Dämmern. Die Gedanken begannen zu schwimmen, drifteten ab in einen Traum. Es war warm, angenehm warm.
Sie schwebte unter Wasser durch türkisblaue Landschaften, suchend umfloss sie riesige Korallenriffe, und gerade, als sie Norbert laut herbeirufen wollte, glitt er auf sie zu. Nein, das war ja nicht Norbert, es war ein Fremder. Die Hände des Mannes strichen sanft und verlangend über ihre Haut, ihre Münder tauchten ineinander, und sie nahm seinen Körper in sich auf. Doch plötzlich bekam sie keine Luft mehr. Nach oben, nach oben, hörte sie sich keuchen, und als sie die Hand auf den Beckenrand legte, fühlte sie, wie ein Fuß darauf trat. Sie blickte nach oben – in das Gesicht ihrer Schwiegermutter.
Regine stieß einen Schrei aus und richtete sich schlagartig auf. Verdammt! Unten in ihrem Zimmer lag die Alte und würde gleich zu zetern anfangen. Jeden Moment konnte es losgehen, heiser, in einem wütend befehlenden Ton, der das ganze Haus durchdrang.
Sie müsste aufstehen. Aber ich kann nicht, ich kann nicht, dachte sie. Konnte der Körper zwingender als der Wille sein? Warum tat sie sich dieses Leben an? Das war doch keine Ehe, das war nur noch ein seelenloses Nebeneinander, festgelegte Routine, von der es kein Abweichen gab. Sie könnte wieder als Arzthelferin arbeiten, im medizinischen Bereich wurden immer Leute gebraucht. Nein, es war kein materielles Problem, da könnte sie unabhängig sein. Es war die tief verankerte Angst vor dem Alleinsein, sie musste und wollte zu zweit durchs Dasein gehen, aber nun war es ja eine Hölle zu dritt geworden …
Das Läuten des Telefons ließ sie aufschrecken. Schwerfällig nahm sie den Hörer und hielt ihn an das heiße Gesicht. »Ja, guten Morgen. – Dörte kann nicht kommen? – Das ist sehr bedauerlich. Ich hab auch die Grippe. – Sie haben keinen Ersatz? – Ich glaube, da überschätzen Sie mich, nein, ich bin gar nicht geübt. In meinem Zustand kann ich unmöglich meine Schwiegermutter versorgen. – Ja, kann man nichts machen. Auf Wiederhören.«
Regine sank aufs Kissen zurück. Wie sollte das jetzt gehen? Norbert anrufen? Nein, der würde bis ans Ende der Welt fliehen, bevor er seine Mutter anfasste. Aber sie, eine Angeheiratete, die schließlich nicht blutsverwandt mit ihr war, sollte sich damit abplagen.
Regine schwang die Beine aus dem Bett und versuchte aufzustehen. Aber wie an kiloschweren Gewichten zog es sie zu Boden, plötzlich durchfuhr sie ein Schwindel, und sie musste sich zurückfallen lassen. Sie lehnte sich an die Rückwand und presste die Decke um sich. Dann griff sie zum Telefon. »Anja Holthusen.«
»Ich bin’s, Regine.«
»Ja?«
»Nun sprich doch nicht so ängstlich. Es ist doch nichts Schlimmes passiert.«
»Noch nicht. – Was ist denn mit deiner Stimme los? Bist du krank?«
»Ja. Darmgrippe. Und Dörte fällt heute aus. Hat ebenfalls Grippe. Und nun sitz ich hier mit der Alten.«
»Oh, je.«
»Anja, ich brauch deine Hilfe.«
»Ja. Und was soll ich dabei tun? Ich meine, ich kann doch nicht deine Schwie –«
»Brauchst du doch auch nicht. Du sollst dich nur um mich etwas kümmern. Wenn du mir vielleicht eine Hühnersuppe kochen könntest. Dann käme ich schon zurecht.«
»Ja, klar.« Durch die Leitung kam vernehmbar ein Aufatmen. »Hast du alles an Zutaten da?«
»Ja, bitte beeil dich!« Regine stöhnte auf, wie unter einem plötzlichen Schmerz. »Einen Hausschlüssel hast du ja.«
»Jetzt sorg dich nicht, ich bin gleich da.«
Regine gab keine Antwort mehr, legte nur erschöpft den Hörer auf.
In diesem Moment war von unten ein tiefes forderndes Brüllen zu hören.
Regine setzte sich auf und fühlte, wie ihr abwechselnd heiße und kalte Wellen den Rücken herunter liefen.
Sie schleppte sich, das Geländer umklammernd, nach unten.
»Wo bleibst du denn? Wo ist Dörte?« Amalie Mewes lag, etwas aufgerichtet, schräg über ihrem Bett und starrte sie empört an. »Dörte kommt heute nicht, sie ist krank. Du musst mit mir vorlieb nehmen.«
»Mit dir. Du siehst ja vollkommen ramponiert aus. Hast du etwa einen Infekt? Dann komm mir bloß nicht zu nahe!«
Regine sagte nichts. Sie legte die Medikamente auf den Nachttisch und holte mit krummem Rücken ein Glas Wasser aus der Küche. In dem Moment klingelte es an der Haustür. »Dörte!«, rief Amalie Mewes hoffnungsfroh. »Nein, Anja.«
»Was will
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