Abendfrieden
die denn hier?«
Regine schlich hinaus und kam kurz darauf mit Anja zurück. »Guten Tag, Frau Mewes.« Anja Holthusen nickte, leicht vorgebeugt, in Richtung des Bettes. »Tag.«
Amalie Mewes wollte sich zur Wand drehen, aber dann fiel ihr etwas anderes ein. »Ich muss aufs Klo.«
»Bitte geh in die Küche.« Anja Holthusen sah ihre Freundin unschlüssig an, folgte dann aber der Aufforderung.
Regine biss die Zähne zusammen und näherte sich ihrer Schwiegermutter. »Hier anfassen, hier.«
Endlich hatte sie die alte Frau in der Vertikalen. Beißend-süßer Uringeruch schlug ihr entgegen, sie hielt den Atem an und schaffte es gleichzeitig, ihrer Schwiegermutter die Krücken in die Hand zu zwingen. »Das kann ich nicht allein«, sagte Amalie Mewes auf der Toilette.
Regine hob das Nachthemd an, zog ihr die Hose runter und ließ sie auf das Klo fallen. »Ich komme dann wieder.« Unter Würgen keuchte sie hinaus.
Regine ging in die Küche und spülte sich die Hände ab. »Bleib bloß da sitzen, ich muss gleich zurück.«
»Ich hab schon mal das Frühstück gemacht«, sagte Anja.
»Danke, das ist lieb.«
Regine zog sich einen Stuhl herum und ließ sich über den Tisch fallen. »Wir schaffen das«, sagte Anja. »Ja.« Regine lauschte zur Toilette, dann erhob sie sich.
Anja stellte mit lauten, klappernden Geräuschen das Geschirr aufs Tablett, dann drehte sie das Radio auf.
Regine kam zurück. »Du kannst wieder abstellen, ich hab sie schon wieder im Bett. Jetzt noch das Frühstück.«
»Hier.«
»Nein, für sie.« Regine spülte sich erneut die Hände ab und stellte auf einem zweiten Tablett Kaffee, Marmelade, Weißbrot und so weiter für ihre Schwiegermutter zusammen. »Jetzt reicht’s aber«, sagte Anja. »Ich bring dich nach oben.«
Regine nickte. Sie befühlte ihr heißes Gesicht, dann ließ sie sich von ihrer Freundin die Treppe hochziehen. »Wo bleibt denn mein Frühstück?«, keifte es von unten. »Ich mach das«, sagte Anja und stieg wieder hinab. »Bitte, Frau Mewes.« Anja Holthusen zog die Platte aus dem Nachttisch und stellte das Tablett ab. »Nun haben Sie es ja endlich geschafft und sind Ihre Schwiegermutter losgeworden«, bemerkte die alte Frau giftig.
Anja Holthusen zuckte zusammen und sah auf. In ein Gesicht, in dem grau und scharf nur die Augen zu existieren schienen. »Meine Schwiegermutter ist – ermordet worden.«
»In der Tat. Aber von wem?« Amalie Mewes fixierte die Jüngere eingehend, als könne dadurch die passende Antwort hervorkommen. Wie bei einem fehlerhaften Automaten, der schließlich doch noch sein Geld ausspucken muss.
Anja Holthusen drehte sich wortlos um. Sie ging in die Küche und kochte die Hühnersuppe.
11
Werner Danzik fuhr mit überhöhter Geschwindigkeit und zwang sich, aus diesem Tempo nicht auszubrechen. An der Alster lang, Sechslingspforte, Wandsbeker Chaussee – er war auf dem Weg zum Wandsbeker Krankenhaus. »Sie sind der Sohn? Ja, wir haben Ihre Mutter hier in der Notfall-Ambulanz, wenn Sie bitte sofort kommen würden«, hatte die Stimme am Telefon gesagt. Sachlich, neutral, weder freundlich, noch unfreundlich. Sein Herz hatte einen Schlag lang ausgesetzt, und er hatte einen Hieb in den Magen gespürt. »Hat meine Mutter einen Unfall gehabt?« – »Nein, keinen Unfall, Sie brauchen sich nicht zu beunruhigen, wenn Sie dann bitte kommen würden.«
Er atmete ein paar Mal tief ein und aus, aber es nützte nichts. Das Herz schlug beschleunigt, die Muskeln waren bis zum Kopf hin angespannt. War es jetzt soweit? Lag seine Mutter im Sterben? Was würde ihn da erwarten? Ein kurzes Sterben, das er für ein paar Tage mit durchstehen musste, oder ein langes Sterben, das über Monate ging? Vielleicht musste er mit im Krankenhaus leben, ihre Hand halten und ohne die Fassung zu verlieren, ihrem angstvollen Blick standhalten. Er schüttelte sich, fühlte, wie sich seine Kopfhaut zusammenzog. Nein, er konnte sie nicht anfassen. Er würde sich ein paar Meter entfernt hinhocken und warten. Hocken und hocken, wie es seine Pflicht war. Würde er überhaupt weinen, würde ihn eine Erschütterung beuteln? Und selbst wenn – hier, in unserem Kulturkreis, riss man sich zusammen. Fassung, Contenance, das erstrebenswerte Ideal, wenn Tod und Trauer plötzlich in das eigene Leben einfielen. Wenn es einen als Angehörigen erwischt hatte, und mit über fünfzig erwischte es einen immer häufiger, dann musste man in irgendeiner Weise Farbe bekennen. Jackie Kennedy hatte in
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