Abendfrieden
zehrten. Dabei hätte es umgekehrt sein müssen: Er, als Kommissar, holt aus ihnen alles heraus und fügt es zu einem schlüssigen Bild zusammen.
Von wegen. Nichts passte im Fall Holthusen zueinander. Danzik trank in großen durstigen Schlucken, als könne der nächste Schluck die entscheidende, alles auflösende Erkenntnis bringen. Doch bei längerem Nachdenken verwirrte sich alles nur noch mehr. Ein junger Typ mit Baseball-Kappe, der schräg gegenüber saß, nickte ihm freundlich zu, doch Danzik verzog nur den Mund und tauchte wieder in sein Bier.
Eigentlich war diese Unruhe doch nichts Neues. Sie befiel ihn zuverlässig immer in der Phase, in der die Fährte noch nicht fest stand. Die Fährte mochte ja falsch sein, das spielte keine Rolle, aber sie musste da sein. Und er musste von ihr überzeugt sein. Danzik schaute ohne Wahrnehmung auf die holzvertäfelte Wand. Vielleicht würde ja die nächste Lagebesprechung was bringen. Wenn Clausen, Bärwald und Rathjen dazukamen und sie die Erkenntnisse aus sämtlichen Spuren zusammenwarfen. Wenn man eine anständige Hypothese hatte … Hauptsache, Doktor Kleinschmidt ließ sich nicht schon blicken. Diese arrogante und zugleich schneidige Art, mit der sich der Herr Kriminaldirektor entfernen würde, weil sie »nichts, aber auch gar nichts Konkretes« in Händen hatten …
Danzik überlegte. Wie viele Fälle hatte es gegeben, die sie nicht aufgeklärt hatten? Dieses türkische Mädchen, das verschwunden war. Sicher ermordet, es konnte auch »nur« Entführung sein, jedenfalls gab es keine Spur. Was noch? Aus jüngster Zeit fiel ihm gerade mal ein zweiter Fall ein. Der Mörder des Kindes lief noch frei herum. Immerhin betrug die Aufklärungsrate bei Mordfällen über neunzig Prozent. Na also, es wird schon werden.
Motive, sinnierte Danzik. Kehr zurück zu den Motiven. Die Schwiegertochter, der Ehemann, die Galeristin. Die drangsalierte Putzfrau kam wohl nicht infrage. Der Mörder ist immer der Gärtner – Danzik lachte leise in sich hinein. Wer hat das stärkste Motiv? Ich weiß es nicht, gestand er sich ein. Alle hatten Alibis, und es sah nicht danach aus, als ob man eins von ihnen würde knacken können. Die Spuren – alle nicht registriert, nicht identifizierbar. Wie sollten sie da weiterkommen? Augenzeugen ranholen, er musste die Presse einbeziehen. Außerdem Beschattung von Henri Holthusen, dem Hauptverdächtigen. Und wenn sie nicht genehmigt wurde? Danzik ließ den Rest Bier im Glas und bezahlte. Geh nach Hause, alter Hase, morgen ist auch noch ein Tag. Plötzlich musste er an Laura denken. Er eilte aus dem Lokal und sog tief die weiche Luft des Frühlingsabends ein.
13
Sirenen drangen schmerzhaft heulend in die Ohren, Blaulicht flackerte in die Fenster, Wagen um Wagen raste durch die ruhige Villengegend. Es brannte. Beißender Rauchgeruch breitete sich über das ganze Harvestehuder Alleenviertel und stieg den Zuschauern scharf bis in die obersten Nasengänge. Aber sie schienen es nicht zu bemerken. Sie hatten sich, soweit es die Absperrungen zuließen, zu einem dichten Klumpen geballt und starrten hinüber zu dem Gelbklinkerhaus in der Parkallee Nummer 24. Was sie sahen, glich einem mittleren Inferno: Flammen loderten in großen Wellen aus den Fenstern des Hochparterres, züngelten bereits zum ersten Stock, darüber schob sich dichter grauer Qualm bis hoch in den blassblauen Himmel. Rund dreißig Feuerwehrleute, bewehrt mit Atemschutzgeräten und Schläuchen, versuchten zu löschen und ein Übergreifen der Flammen auf die oberen Stockwerke zu verhindern.
Unten vor dem Haus spielte sich ein nicht minder aufregendes Spektakel ab. Feuerwehr- und Rettungswagen blockierten die Straße, Notärzte und Sanitäter rannten hin und her und führten in Decken gewickelte Bewohner ins Freie. Eine etwa 70-jährige eulenäugige Frau hielt zitternd ihre graue Strickjacke zusammen und schaute wie in einem zwanghaften Rhythmus immer wieder zum Haus empor. In den Reihenvillen ringsum hatte es inzwischen sämtliche Bewohner, die an diesem Mittag zu Hause waren, an die Fenster getrieben.
Eben war auch die Polizei eingetroffen. Werner Danzik und Torsten Tügel sprangen aus dem Auto, das Lichtsignal zuckte weiter, aus den nächsten Wagen quollen Streifenbeamte, Spurensicherer in ihren weißen Overalls, der Polizeifotograf und Doktor Urban, der Gerichtsmediziner. Die Streifenbeamten machten sich sogleich daran, die Zuschauermenge noch weiter zurückzudrängen, die Kommissare und ihr
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