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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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im übrigen übe er jeden Tag mindestens drei Stunden. Es sei ihm eine Ehre, sagte Carl. Der Streit war vergessen. Agnes fuhr nun jeden Morgen mit der Straßenbahn von Penzing zum Karlsplatz und ging weiter zu Fuß die Prinz-Eugen-Straße hinauf zur Bezirkszentrale des ÖGB. Am späten Nachmittag kehrte sie zurück, bügelte die Hemden, räumte die Wohnung auf, kochte. Georg trug das Kind auf dem Arm, fütterte es feist, rollte mit ihm auf dem Boden durch die Zimmer, schlief, wenn es schlief, spielte ihm vor und ließ es mit den Patschfingern in die Saiten greifen, bis es sich an der hohen E verletzte. Freitags, samstags und sonntags trat er in den Clubs auf. In den ersten Morgenstunden kam er nach Hause und war betrunken. Bis in den Nachmittag hinein schlief er. Als der Sohn fünf Jahre alt war, brachte er seinem Vater das Frühstück ans Bett. Agnes bereitete es vor, bevor sie zur Arbeit fuhr, Kaffee in der Thermoskanne, Käsebrot zwischen zwei Tellern, damit es nicht austrocknete. Georg versprach seinem Sohn, daß bald alles anders würde, es sei im Augenblick eine schwierige Zeit. Den Kaffee ließ er, statt dessen trank er Weißwein. Bevor Agnes von der Arbeit nach Hause kam, putzte er sich die Zähne und gurgelte mit Kaffee, den Rest schüttete er ins Waschbecken. Er haßte Kaffee. Als der Sohn sechs Jahre alt war, zog er die Mutter am Ärmel in sein Zimmer und sagte: »Er schläft bis um drei, und bevor du kommst, putzt er sich die Zähne und gurgelt mit Kaffee.« Sie nickte und versprach, mit dem Vater zu reden. Der Sohn beobachtete seine Eltern, spionierte ihnen nach, sah sie aber nicht miteinander sprechen. Vielleicht redete die Mutter ja in der Nacht mit dem Vater, das konnte er nicht hören, weil zwischen seinem Zimmer und dem Schlafzimmer das Bad lag, und dort rauschte die Klospülung, der Ablauf vom Reservoir war nämlich nicht dicht. Er glaubte, es würde nützen, wenn sie mit ihm redete, und warf ihr vor, daß sie es nicht tat. Als er sieben Jahre alt war und in die Schule kam, war Georg an den Tagen allein in der Wohnung. Er spielte auf der Gibson und trank. Er bevorzugte nun Whisky, Vat 69, Jim Beam und den roten Johnnie Walker. Wenn der Sohn wieder damit anfing, schüttelte Agnes nur den Kopf, und ihre Augen wurden wie Zement. Der Sohn nahm eines Tages seinen Mut zusammen und bat den Vater, nicht soviel zu trinken. Georg bekam einen hysterischen Anfall, schrie, ob es denn schon wieder soweit sei, daß ein Kind seinen Vater bespitzle und verleumde. Durch all diese Jahre hatte der Sohn ein schweres Herz, weil sein Vater ein Trinker war, er aber nicht wußte, ob es wirklich so schlimm war, wie er dachte, oder nur eine vorübergehende Schwäche, und er dem Vater vielleicht unrecht tat, was ihn nur noch weiter schwächen würde. Als er zehn war und in der ersten Klasse des Gymnasiums, brach Georg zusammen. Agnes wollte sich scheiden lassen. Sie schimpfte, und das hörte sich für den Sohn an wie eine Reklamation. Sie hat sich von uns abgekoppelt, dachte der Sohn. Sie fühlt sich nicht mehr zu unserem Gespann gehörig. Sie war auf einmal anders. Ihre Stimme war anders – vorne im Mund gebildet, scharf und überartikuliert –, ihr Schritt war anders, die Bewegungen ihrer Hände waren anders, zuckend, provokant, unkontrolliert, spastisch. Der Sohn dachte sich: Die Mutter ist ohne Gefühl; ohne Gefühl für ihren Mann, ohne Gefühl für ihren Sohn, ohne Gefühl für jeden Menschen auf der Welt.
5
    Es fing damit an, daß sie die Flaschen aus dem Haus räumte, die leeren und die halbleeren und die vollen. Mein Vater packte sie bei den Armen, schüttelte sie, ich dachte, er bricht ihr das Genick. Er schlug ihr mit einem Tritt die Beine weg und stieß sie zu Boden. Er trat weiter gegen ihre Füße und ihre Unterschenkel und gegen ihr Becken. Sie kroch zur Tür, stolperte hinunter auf die Straße und in den Laden und rief Carl in Innsbruck an. Währenddessen demolierte mein Vater die Küche, stürzte den Kasten mit dem Geschirr um und warf sich mit Anlauf gegen die Wand, bis er aussah, als wäre er gegen Floyd Patterson im Ring gestanden. Ich kauerte im hintersten Zimmer in meinem Bett, die Decke wie ein Gespenst über Kopf und Schultern, und heulte mir die Seele hohl. Zwanzig Stunden später, als Carl und Margarida an der Tür schellten, lag mein Vater im Wohnzimmer auf dem Sofa und wimmerte und krampfte und wollte nicht, daß jemand einen Arzt rufe, und bat darum, ihn die Sauerei aufräumen zu lassen. Es

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