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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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Gitarrestunden, fuhr mit dem Fahrrad durch die Stadt zu seinen Schülern, die Gibson in der gepolsterten Tasche auf dem Rücken. An den Abenden spielte er in verschiedenen Formationen in verschiedenen Lokalen, im Sommer vor Touristen in Grinzing in einem Schrammelquartett (auf der Gibson!). Carl redete ihm ins Gewissen, er solle sein Talent nicht vergeuden; wenn er Geld brauche, werde er es ihm geben; das sei kein Almosen, sondern der Tribut des Untalentierten an den Talentierten – und so weiter. Ich glaube, meine Mutter hätte nichts dagegen gehabt; aber mein Vater wollte es nicht; besser: meistens wollte er es nicht; besser: immer wieder fiel ihm ein, daß er es eigentlich nicht wollte.
    Wie Carl sie mir als junge Frau beschrieb, erkenne ich sie nicht wieder: nervös, getrieben, monoman. In dem zarten, struppigen Mann, der mehrere Male in der Woche mit Carl im Imperial frühstückte, hatte sie geglaubt, den für sie Bestimmten zu erkennen. Erst wohnten sie bei Georgs Mutter in dem Gemeindebau im 17. Bezirk in der Zeilergasse (vis-à-vis hauste übrigens der wallbärtige König der Contragitarre, Anton Strohmayer; wenn er sich in seiner Küche den Kaffee aufbrühte, konnte ihn Georg sehen; manchmal winkten sie einander zu). Agnes’ Vater galt als vermißt, ihre Mutter zögerte jedoch, ihn für tot erklären zu lassen. Einmal nur, bei der Hochzeit und dem anschließenden Essen in der Goldenen Glocke in der Kettenbrückengasse, hatte Georg seine Schwiegermutter gesehen – eine Frau mit aufgequollenen Augen und einem lippenlosen Strich als Mund, aber den grell geschminkt. Georg fand schließlich eine eigene Wohnung, draußen in der Penzingerstraße, nicht weit vom Technischen Museum. Die Wohnung war billig. Aber, wie Carl meinte, unmöglich geschnitten. Die Zimmer reihten sich wie auf der Wäscheleine hintereinander, und zwar in einer merkwürdigen Abfolge – wenn man eintrat, befand man sich in der Waschküche, es folgten die Küche, das Wohnzimmer, das Schlafzimmer, das Bad und zuletzt ein eventuelles Kinderzimmer, das blickte in einen Garten mit Kirschbäumen hinaus. Carl schlug vor, in seinem Haus am Rudolfsplatz eine Wohnung für sie einzurichten. Das wollte Georg nicht, und Agnes wollte es auch nicht.
    Als Agnes schwanger war, wurde ihr im Imperial gekündigt. Kellnerinnen mit einem dicken Bauch paßten nicht in das Café eines Nobelhotels. Carl riet ihr, sich an die Arbeiterkammer zu wenden oder an die Gewerkschaft. Statt für sie zu kämpfen, bot ihr die Gewerkschaft einen Posten als Sekretärin an. Erst aber blieb sie zu Hause und kümmerte sich um das Kind. In dieser Zeit lebten sie von Carls Geld. Er richtete bei der Postsparkasse ein Konto für sie ein, lautend auf Agnes und Georg Lukasser, und überwies monatlich einen Betrag. Dafür besuchte er sie öfter und ließ sich von Georg auf der Gitarre vorspielen. Er besorgte auch einen Plattenspieler und Schallplatten – Louis Armstrong, Charlie Parker, Billie Holiday, Enrico Caruso, Dizzie Gillespie, Coleman Hawkins –, das seien nicht Geschenke, sagte er, sondern Investitionen. Er stieß auf kein großes Interesse. Georg und Agnes taten den lieben Tag lang nichts anderes, als sich um das Kind zu kümmern. Georg vernachlässigte die Musik, die Gibson lag eingepackt in ihrem Koffer im letzten Zimmer, das noch leer war. Das Kind schlief bei Georg und Agnes im Bett. Agnes ging an den Nachmittagen zusammen mit Carls Schwester Valerie und dem Kinderwagen spazieren. Georg verließ nur sehr selten die Wohnung. Und er zog sich selten etwas anderes an als den Schlafanzug. Er trank nicht viel, aber ständig. Er verlor den Überblick, dachte, es seien nicht mehr als zwei Achtel oder drei oder höchstens vier am Tag, während Agnes wußte, es war nie weniger als eine Flasche. Carl ermahnte Georg, nicht auf das Üben zu vergessen, ein Talent könne verkümmern, und es könne sogar absterben. Georg reagierte unverhältnismäßig zornig. Musik entstehe nicht in den Fingern, sondern im Kopf, sagte er, und die Liebe zu seinem Kind sei die beste Musik, also übe er. Carl zog sich zurück, der Kontakt brach ab. Die monatliche Überweisung blieb aufrecht. Nach einem Jahr stand Georg vor Carls Tür, erklärte, das Geld sei nun nicht mehr nötig, weil Agnes mit ihrer Arbeit beim Gewerkschaftsbund begonnen habe, und fragte, ob Carl der Pate seines Sohnes werden wolle, man habe nämlich beschlossen, ihn taufen zu lassen, man könne ja nicht ausschließen, daß etwas dran sei,

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