Abendland
schüttelte ihn so sehr, daß er das Glas nicht halten konnte. Carl flößte ihm Whisky ein, weil er fürchtete, er werde sonst ins Delirium fallen. Mein Vater schämte sich – vor meiner Mutter, vor mir und vor Carl. Er versuchte, einen Spaß für mich zu machen, nämlich den, den ich, als ich klein war, so gern gehabt hatte. Er steckte einen Daumen in den Mund und drückte mit dem anderen Daumen von innen gegen den Oberarm und pustete, so daß es aussah, als blase er seinen Bizeps auf. Und dann weinte er. Margarida sagte, sie werde sich um ihn kümmern. Die Tür zum Wohnzimmer stand offen, so daß meine Mutter und Carl in der Küche hören und, wenn sie zwei Schritte zur Seite traten, auch sehen konnten, was im Wohnzimmer vor sich ging. Mich hatte man ins Bett geschickt. Natürlich konnte ich nicht schlafen. Irgendwann schien sich mein Vater beruhigt zu haben. Ich schlich durchs Badezimmer und weiter durchs Schlafzimmer. Die Tür zum Wohnzimmer war nur angelehnt. Ich spähte durch den Spalt. Ich sah, daß Margarida dicht neben meinem Vater saß. Sie hatte ihre Hand in seiner offenen Hose, und die glitt langsam über seinen Penis. Mein Vater lag breit ausgestreckt über dem Sofa, ein Bein auf dem Boden, die Augen offen, atmete schwer. Und ich sah, daß meine Mutter in der Küchentür stand und Margarida beobachtete. In ihrem Gesicht war eine geistesabwesende Interessiertheit, wie wenn sie jemandem beim Rosenschneiden zusähe. Sie bemerkte mich, aber das änderte nichts in ihrem Gesicht. Ich habe nie mit meiner Mutter darüber gesprochen. Aber mit Margarida habe ich darüber gesprochen. Allerdings erst viel später. »Es war die einzige Möglichkeit, deinen Vater zu beruhigen«, sagte sie und hustete sich den Drang zu lachen aus der Brust. »Das habe ich mir damals eigentlich auch gedacht«, log ich. Daß ihr meine Mutter dabei zugesehen hatte, sagte ich ihr nicht. Ich war erst zehn gewesen, und von Liebe, Eifersucht, Begehren wußte ich gar nichts. – Ich tastete mich durch die Dunkelheit in mein Zimmer zurück. Normale Kinder glauben, daß ein Vater unzerstörbar sei; ich wußte es besser. Irgendwann wachte ich auf, weil ich Carl und meine Mutter reden hörte. Sie waren im Bad, ich konnte sie deutlich verstehen. Carl warf meiner Mutter vor, daß sie ein Kind bekommen hatte …
Entziehungskur, anschließend Kreta. Ich in Innsbruck und in Lissabon. Als ich nach einem Jahr zu meinen Eltern nach Wien zurückgebracht wurde, erwarteten sie mich am Westbahnhof als ein glückliches Paar. Margarida hatte mich im Zug begleitet. Erst hob mich meine Mutter zu ihrem Gesicht und küßte mich, dann mein Vater. Meine Mutter umarmte Margarida, und mein Vater umarmte Margarida. Ich dachte mir, vielleicht habe ich mir alles nur eingebildet in jener Nacht, was Margarida an meinem Vater angestellt hatte, was Carl im Bad zu meiner Mutter gesagt hatte. Meine Eltern sahen gut aus. Braungebrannt waren sie, verjüngt waren sie, zugenommen hatten sie, nicht mehr so ausgezehrt waren sie. Mein Vater ging vor mir in die Hocke und sagte: »Nicht einen Schluck habe ich getrunken. Bist du stolz auf mich?« »Ja, ich bin stolz auf dich«, sagte ich. »Hast du dich in Innsbruck in ein Mädchen verliebt?« fragte meine Mutter. »Ich war sogar in Lissabon«, sagte ich. »Und in Brasilien«, fügte Margarida bedeutungsvoll hinzu. Wir gingen zu Fuß zur Penzingerstraße. Meinen Rucksack trug ich selbst, meinen Koffer trug mein Vater. Meine Mutter legte ihren Arm um ihn und hielt im Rücken seinen Gürtel fest. Ich kannte sie nicht mehr wieder und mußte sie erst wieder kennenlernen.
Es folgten unsere schönen Jahre. Mein Vater trank nichts mehr, sogar Rasierwasser gestattete er sich nicht, und wenn wir in ein Gasthaus essen gingen, fragte er den Kellner, ob Wein in der Sauce sei, und sagte mit Noblesse in der Stimme: »Sie müssen nämlich wissen, ich bin Alkoholiker.« Meine Mutter erzählte mir: daß sie in Kreta in einem Dorf in den Bergen gewohnt hätten, das sei umgeben gewesen von Olivenhainen; jeden Tag hätten sie etwas zu essen in einem Korb mitgenommen und die Nylonsaitengitarre und eine Decke und seien gewandert, ohne Ziel, hätten sich in den Schatten eines Olivenbaums gelegt; Papa habe ihr Melodien vorgespielt, die ihm in der Nacht in den Träumen eingefallen seien, einige habe er sich notiert, die meisten habe er vergessen; sie seien auf der Decke gelegen und hätten in den Himmel geschaut. »Und das ein Jahr lang?« fragte ich. »Mir
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