Abendland
sie mehrere Tage hintereinander zu Hause, manchmal von morgens bis spät in die Nacht hinein im Büro unten im vierten Bezirk. Ich vermißte meinen Vater, aber das Leben ohne ihn war doch angenehmer, weil um so vieles leichter. Manchmal klingelte der Heinz Pachner an unserer Tür, der Lehrling unten beim Lammel, und sagte, der Herr Professor Candoris habe angerufen, ob wir ihn zurückrufen könnten. Wenn Carl und Margarida in Wien waren, besuchten sie uns und luden uns in die Innenstadt zum Essen ein. Meine Mutter blieb lieber zu Hause, nur einmal ging sie mit.
An den Nachmittagen breitete ich meine Schulsachen über den Küchentisch, spitzte meine Bleistifte und Buntstifte, schnitt Sportbilder aus Zeitschriften aus und klebte sie in verschiedene Hefte oder betrachtete Menschenhaare, Fliegenbeine und Schimmelkäse unter dem Mikroskop, während meine Mutter herumwerkelte. Oder wir hörten uns gemeinsam ein Hörspiel an. So sehe ich sie: die Brauen hochgezogen, mit den Lippen die Bewegungen ihrer Finger nachahmend, sich immer wieder mit einer überflinken Bewegung ins Haar fahrend. Ich wußte nicht, was das für eine Sache war, ob sie etwas für sich bastelte, oder eine Heimarbeit gegen Bezahlung. Manchmal erledigte sie Gewerkschaftspost, dann lagen vor ihr eine Liste und Kuverts, links die noch leeren, rechts die bereits bearbeiteten, darüber die Briefe, die, auf ein Drittel zusammengefaltet, versandt werden sollten, weiters ein Bogen mit Briefmarken und eine Plastikschale, in der ein Stück feuchter Schaumgummi lag. Sie schrieb die Adressen mit einem Füllhalter, den ich nicht einmal berühren durfte, über ihren rechten Daumen hatte sie eine Kappe aus rotem, durchlöchertem Gummi gestülpt.
Eines Tages brachte sie einen hohen Packen alter Zeitschriften aus der Stadt mit, sie trug ihn die Treppe herauf, er reichte ihr vom Gürtel bis zum Kinn – Quick , Stern , Spiegel , Constanze , einige Sportzeitungen waren darunter, aber auch alte Tageszeitungen, Krone , Kurier , Arbeiterzeitung – alle datiert von August bis September 1960, nämlich als die Olympischen Spiele in Rom stattgefunden hatten. Sie sagte mir nicht, woher die waren. Ich vermutete, jemand hatte sie ihr geschenkt. Aber wer? Sie wollte mir eine Freude bereiten, und das erschreckte mich merkwürdigerweise. Ich konnte mir meine Mutter nicht als jemanden vorstellen, der darüber nachdenkt, wie er einem anderen eine Freude bereiten könnte, schon gar nicht, wenn es sich dabei um mich handelte. Bei der Fußballweltmeisterschaft 1958 hatte ich zu sammeln begonnen. Ein Heft besaß ich, in das ich nur Bilder des brasilianischen Rechtsaußen Garrincha geklebt hatte. Er war mein Liebling gewesen. Auf dem Schulweg hatte ich seinen Namen halblaut vor mich hin gesagt wie eine Zauberformel. Inzwischen interessierte mich Leichtathletik mehr als Fußball. Bis spät in die Abende hinein saßen wir nun zusammen und schnitten im Licht der Küchenlampe Bilder aus. Sie war dabei sehr geschickt. Mit einer Fingernagelschere schnipselte sie an den Konturen der Körper entlang, so daß am Ende die Sportler ohne Hintergrund, als wären sie noch gar nicht in der Welt angekommen, über die linierten Seiten liefen oder den Speer, den Hammer, den Diskus schleuderten oder am Reck, an den Ringen, am Barren, am Pferd turnten oder vom Sprungbrett sprangen oder den Ball auffingen oder ihn in den Korb warfen oder den Hockeyschläger schwangen oder zu acht plus Steuermann mit Sprechtüte in einem Boot ruderten. Im Sommer 1960 war ich in Innsbruck bei Carl und Margarida gewesen und hatte gar nichts von den Olympischen Spielen mitgekriegt, weil sich die beiden nicht für Sport interessierten und ich außerdem einige sehr anspruchsvolle Sorgen hatte, die es nicht zuließen, daß ich mich ablenkte. Ich nehme an, meine Mutter wollte mit den Zeitschriften vor mir Abbitte leisten, jedenfalls kam mir dieser Gedanke; andererseits glaubte ich nicht – und kann es mir auch heute nicht vorstellen –, daß sie von sich aus auf diese Idee gekommen war. Vielleicht hatte sie mit jemandem über mich geredet. Vielleicht hat ihr derjenige gesagt, es sei nicht anständig von ihr gewesen, mich ein Jahr lang zu anderen Leuten zu schicken. Vielleicht hat sie zu ihm gesagt: Es ist nun einmal geschehen, wie soll ich es zurückzaubern? Und er hat gesagt: Eine Freude kannst du ihm machen. Wofür interessiert er sich denn? Und sie hat gesagt: Für Sport. Und da ist ihm eingefallen, daß er irgendwo, im Keller
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