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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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kam es viel kürzer vor«, sagte sie.
    Mein Vater stellte eine neue Band zusammen – der kugelköpfige, lustige Adi Kochol am Baß, der mürrische Edwin Niedermeyer am Piano (er wurde ein paar Jahre später mit Wahnideen ins Irrenhaus am Steinhof gebracht, wo er mit einigen Unterbrechungen bis zu seinem Tod fast zwanzig Jahre lang blieb) und Philipp Mayer am Schlagzeug (er war mir der liebste, er hatte eine Freundin, die war umwerfend komisch, und er war das gar nicht, er war melancholisch und doch so stolz auf sie, wenn sie den Clown spielte). Sie reisten alle zusammen in einem alten Omnibus durch Deutschland, feierten in Hamburg und Köln Erfolge, spielten im Westdeutschen Rundfunk mit Albert und Emil Mangelsdorff eine Session ein (Attila Zoller saß im Regieplatz und schaute durch die Scheibe zu. Der Aufnahmeleiter wollte, daß Attila und mein Vater im Duett spielten, das lehnten aber beide, lange lachend, ab). Als mein Vater von dieser Tour zurückkam, ging er wieder vor mir in die Hocke und sagte: »Nicht ein Tropfen, Sebastian! Bist du stolz auf mich?« Und ich sagte: »Das bin ich, Papa, ja.« Er nahm seine erste Schallplatte auf. One Night in Vienna . Der Produzent begriff nicht einmal ansatzweise, mit was für einem Kaliber er es hier zu tun hatte. Er setzte auf Bewährtes, nur zwei eigene Kompositionen meines Vaters ließ er zu, die anderen Nummern waren Standards. (Bei Gershwins Summertime steuerte übrigens Art Farmer ein Solo auf der Trompete bei, er war damals bei der ORF-Bigband engagiert und saß manchmal bei uns in der Küche, still und traurig, der blasseste Schwarze, den ich je gesehen habe, als wäre Asche in die Poren gedrungen.)
    Ein gewisser Maximilian Farebrother, der eigentlich zu anderen Aufnahmen in dem Studio war, spielte spontan bei zwei Nummern das Tenorsaxophon, und er erkannte, was in meinem Vater steckte. Er vermittelte ihn an ein Jazzlabel in London, und dort nahm mein Vater bereits ein halbes Jahr später seine zweite Platte auf. Und diese Platte war eine Sensation. Sie katapultierte ihn in Jazzkreisen an den Himmel. Sie war Agnes Lukasser gewidmet und hatte den Titel: George Lukassers Lassithi Dreams . Der Titel sollte sie an Kreta erinnern, wo sie sich fast zehn Wochen lang auf der Hochebene von Lassithi zwischen den Windmühlen herumgetrieben hatten und wo der Engel der Musik Nacht für Nacht die Träume meines Vaters heimgesucht und ihm aus dem goldenen Firmament Melodien mitgebracht hatte. Mein Vater war gemeinsam mit Adi Kochol und Philipp Mayer nach London geflogen, im Studio waren sie von dem Saxophonisten Lee Konitz und dem Pianisten Lennie Tristano erwartet worden, die damals bereits gute Namen hatten. Nur eigene Kompositionen meines Vaters wurden eingespielt, auch im Arrangement richtete man sich allein nach seinen Wünschen und Vorstellungen. – Miles Davis hat Anfang der achtziger Jahre in einem Zeitungsinterview an diese Aufnahmen erinnert, als er sagte: »Was heißt Avantgarde? Lennie Tristano, Lee Konitz und George Lukasser haben vor fünfzehn Jahren Ideen gebracht, die kühner als alle diese neuen Dinge waren. Aber als sie es taten, hatte es Sinn.« Ich habe mir das Interview unter Glas gerahmt und überallhin mitgenommen, es hängt heute in meinem Arbeitszimmer.
    Studioaufnahmen in Berlin, wieder in Köln, in München und schließlich in New York folgten. Der Höhepunkt in der Karriere meines Vaters: eine Tournee durch die Vereinigten Staaten von Amerika, gemeinsam mit Chet Baker. – Fast ein Jahr waren meine Mutter und ich allein.
    Eine solche Selbstverständlichkeit waren wir uns gegenseitig in dieser Zeit, daß wir ohne jedes äußere Zeichen einer Zuwendung auskamen; wir küßten uns nicht, wir umarmten uns nicht, ich legte meinen Kopf nicht an ihre Schulter; keine Neugierde empfanden wir füreinander; mit dem denkbar geringsten Aufwand an Worten kamen wir aus, als wäre der eine dem anderen ein externes Organ, telepathisch mit einem Zentrum verbunden, von dem sich nicht mit Bestimmtheit sagen ließ, wo es untergebracht war. Gestritten haben wir nicht (bis auf einmal). Gelacht haben wir aber auch nicht. Ich war gern zu Hause, und tagsüber hielt ich mich nicht hinten in meinem Zimmer auf, sondern bei ihr in der Küche. Sie arbeitete immer noch bei der Gewerkschaft, konnte ihre Zeit aber einteilen, wie sie es wollte. Ich wußte das nicht so genau. Vielleicht war sie ja auch nur auf Honorarbasis angestellt und wurde eingesetzt, wenn es nötig war. Manchmal war

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