Abendland
oder im Dachboden, einen Haufen alter Zeitschriften und Zeitungen liegen hatte. So habe ich mir die Sache zurechtgelegt – mit der etwas unheimlichen Ahnung, daß es in dieser Stadt jemanden gab, den ich nicht kannte, der aber mich kannte und meinte, er müsse sich als mein Anwalt zwischen mich und meine Mutter stellen. Sie riet, wir sollten uns nur auf eine Sportart beschränken, und schlug Leichtathletik vor, weil sie wußte, daß mir die Sportler aus dieser Disziplin am besten gefielen. Unsere Helden waren: Bikila Abebe aus Äthiopien, der den Marathon barfuß gelaufen war und den Zweiten um mehr als eine Stadionlänge abgehängt hatte, ohne dabei nennenswert zu schwitzen, wie es in einem Artikel hieß; Armin Hary, der als erster Mensch die hundert Meter in 10,0 gelaufen war (eine der Sportzeitschriften hatte anläßlich der Eröffnung der Spiele eine lange, reich bebilderte Rückschau gehalten, und darin fand ich ein Bild von Jesse Owens, dem goldenen Sprinter und Weitspringer von Berlin 1936, auf dem er jemandem, der links neben ihm steht, die Hand reicht; zufällig gab es auch ein Foto von Hary, wie er die Hand ausstreckt, und zwar nach rechts; ich klebte die Bilder nebeneinander, und auch wenn Hary darauf deutlich kleiner war als Owens, sah es aus, als reichten sich die beiden die Hand); oder: Ralph Boston, Goldmedaille im Weitsprung, 8,12 m (ich besaß drei Bilder von ihm, auf allen führt er seine berühmten Luftschritte vor, deutlich waren die drei Buchstaben auf seinem Leibchen zu sehen, die sein Heimatland, das ja vielleicht bald auch das unsere sein würde, bezeichneten – United States Of America ); Rafer Johnson, der beste Zehnkämpfer (seinen Name sprachen meine Mutter und ich gern und oft aus, weil wir meinten, er passe so gut zu einem, der alles konnte); Waleri Nikolajewitsch Brumel, der Hochspringer aus der Sowjetunion, der in Rom zwar nur Zweiter geworden war, aber erst vor kurzem mit 2,28 m den Weltrekord aufgestellt hatte. Unser erklärter Liebling aber hieß: Wilma Rudolph. Sie hatte sowohl im Hundertmeterlauf und im Zweihundertmeterlauf die Goldmedaille gewonnen als auch in der 4 x 100-Meter-Staffel der Damen das amerikanische Team zum Sieg geführt. Auf einem der Bilder, die wir in den Zeitschriften fanden, hielt sie den Kopf etwas schief und lächelte, wie uns schien, verlegen. »Hier schaut sie aus wie du«, sagte ich zu meiner Mutter, und obwohl offensichtlich war, daß ich mir das nur ausgedacht hatte, freute sie sich und war einen Augenblick lang verwirrt, und ich kam nicht einmal auf den Gedanken, sie freue sich vielleicht gar nicht so sehr wegen der Ähnlichkeit mit Wilma Rudolph, sondern weil ihr Sohn sich ihr gegenüber wie ein Kavalier verhalten hatte. Als Kind sei Wilma, lasen wir in der Bildunterschrift, an Kinderlähmung erkrankt, und ihr rechtes Bein sei gelähmt gewesen, und in einem guten Spital habe man sie nicht aufgenommen, weil sie schwarz war. Da stand auch, daß sie in einem Ort namens St. Bethlehem geboren sei, was ja schon merkwürdig genug war, aber obendrein sei sie auch noch das zwanzigste von zweiundzwanzig Kindern gewesen. Bis zu ihrem zehnten Lebensjahr sei sie auf Krücken gegangen, aber genau an ihrem Geburtstag habe sie die Krücken weggeworfen und zu trainieren begonnen. Sechs Jahre später bereits, als Sechzehnjährige, nahm sie an den Olympischen Spielen in Melbourne teil und holte als Staffelläuferin die Bronzemedaille – damals war sie gerade drei Jahre älter als ich gewesen. Meine Mutter schnitt je ein Bild von Armin Hary und Wilma Rudolph aus – es zeigte die beiden im vollen Spurt – und klebte sie, meinem Vorbild beim Einkleben von Armin Hary und Jesse Owens folgend, übereinander, und zwar so, daß es aussah, als liefen sie um die Wette. Mir gefiel das nicht, denn es widersprach eklatant den Regeln, die es nun einmal nicht zuließen, daß Männer und Frauen gegeneinander antraten; außerdem hatte meine Mutter Wilma Rudolph einen kleinen Vorsprung gegeben, was schon gar nicht sein konnte, denn Armin Hary war genau eine Sekunde schneller gelaufen als sie. Ich riß die Seite aus dem Heft, woraufhin meine Mutter die restlichen Zeitschriften, die noch so viele Schätze bargen, nach unten brachte und in die Mülltonne warf. Eine Woche lang redeten wir kein Wort miteinander. Aber schließlich ging alles wieder so weiter wie bisher – nur daß ich mir meine Sporthefte nicht mehr in ihrer Gegenwart anschaute. Ich war dreizehn, fühlte mich nicht mehr
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