Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
Vom Netzwerk:
knappe halbe Stunde Fußweg vom Institut entfernt, das Hotel Leonjuk bildete den dritten Punkt in einem etwa gleichseitigen Dreieck; Carl hatte also einen längeren Abendspaziergang vor sich, aber daran hatte er sich inzwischen gewöhnt. Emmy Noether zog sich zwei Wollmützen über den Kopf, ihre Hände vergrub sie in geringelten Fäustlingen, die an einer Schnur um ihren Hals hingen. Im Institut trug sie ihre Sommerhalbschuhe, die bequem eingetreten waren, für die Straße besaß sie wasserdichte, wadenhohe Männerstiefel aus Juchtenleder mit Kautschukfußbett. Das Schuhwerk war der Grund, warum man Frau Professor Noether in Moskau immer mit einem Rucksack auf dem Rücken sah, einem deutschen Wandervogelrucksack aus dichtgewebtem Khakileinen. Im Institut trug sie darin ihre Stiefel herum, draußen ihre Halbschuhe. Auf die Stiefel war sie besonders stolz, sie hatte sie sich in Göttingen über Versand von einem Fachgeschäft schicken lassen, hatte sie absichtlich zwei Nummern zu groß gewählt, damit, wie sie Carl während der Bahnfahrt von Berlin nach Moskau auseinandersetzte, sich im Inneren mit Hilfe von drei Paar Wollsocken ausreichend Wärme speichernde Luftkämmerchen bilden könnten. Es waren monströse Knobelbecher, »welche« – so stand in der Reklameanzeige zu lesen, die sie Carl präsentierte, als wäre sie eine vertraglich abgesicherte Garantie – »unter Mithilfe von erfahrenen Feldsoldaten für Jäger entworfen und gebaut wurden, die frühmorgens in feuchter Flur stehen und auf das Wild warten, auf das sich mit desto ruhigerer Hand anlegen läßt, je wärmer die Füße sind«.
    Sie gingen dicht nebeneinander durch die engen Gassen zur Poljanka, Carl auf der Häuserseite, Emmy Noether auf der Straßenseite. Sie konnte nicht erkennen, wo eine Tür oder eine Einfahrt das eintönige Dunkel der Wand unterbrach, und das war ihr unheimlich. Ihr Assistent schien zwar nicht besonders stark zu sein, aber groß war er, in seinem gefütterten Mantel wirkte er sogar mächtig, die Pelzmütze täuschte einen breiten Nacken vor und verdeckte die feinen, jungenhaften blonden Haare. (Sie habe ihn, wird sie an diesem Abend bei ihrem ersten »persönlichen« Gespräch zu ihm sagen, anfänglich für jemanden gehalten, dem man Unglück und Grausamkeit niemals zumuten dürfe, weil er sich nicht zu wehren verstehe.) Normalerweise redete sie in Carls Beisein ohne Unterbrechung. Und wenn er sie nachts vom Institut zur Brodnikov-Straße begleitete, redete sie noch mehr als sonst. Daß sie mit Carl an ihrer Seite keine Angst hatte, ließ sie übermütig werden. »Gegen die Dunkelheit«, hatte sie ihn einmal belehrt, als würde sie ihm eine ihrer originellen Lösungen präsentieren, »helfen nur Nachdenken und Kennerschaft. Nur so bekommen die Dinge einen Sinn, und man braucht sie nicht mehr zu fürchten. Habe ich recht?« Sie redete beim Ausatmen und redete beim Einatmen. Sie dachte im Reden. Carls Part war es – und war es immer gewesen –, zuzuhören und ab und zu eine Frage zu stellen. Es hatte ihn immer mit Genugtuung erfüllt, daß seine Gegenwart sie offenkundig zum Denken animierte. Anfangs, in Göttingen, war es ihm mitunter schwergefallen, ihren hurtigen Sprüngen von Ahnung zu Behauptung zu Vermutung zu Beweis zu folgen, bald jedoch kannte er sich in den Räumen ihres Gedankengebäudes gut genug aus, um sich darin nicht zu verirren. (Wenn sie zwei Jahre später mit ihm auf seinen Doktor anstoßen wird, wird sie sagen: »Ihre vorzüglichste Eigenschaft ist das Zuhören. Könnten alle so gut zuhören wie Sie, würde sich das Wissen in der halben Zeit verdoppeln.«) – Heute schwieg sie. In ihrem Schweigen fand er sich nicht zurecht, hatte er sich nie zurechtgefunden.
    Das erste Mal war es während eines ihrer Spaziergänge in Göttingen geschehen. Sie war plötzlich, und wie er sich erinnerte, mitten im Gedanken, mitten im Satz, in Schweigen versunken. Er hatte damals gemeint, es sei dies eine Aufforderung an ihn, den von ihr eingeschlagenen Gedankengang zu Ende zu führen; und weil dieser bereits so hell von ihr ausgeleuchtet worden war, war es ihm leichtgefallen und eine Freude gewesen, die Schlüsse zu ziehen, die zwingend aus ihren Thesen gezogen werden mußten, und die Folgerungen miteinander zu verknüpfen. Nun hatte er geredet und geredet und mit den Händen ausgeholt, und als er merkte, daß seine Hände von allein die Gesten seiner Doktorvaterin nachahmten, betonte er diese Gesten sogar noch, denn er war

Weitere Kostenlose Bücher