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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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allerdings andere Konsequenzen als in der Mathematik …«
    Lawrentij Sergejewitsch Pontrjagin stieg von seinem Schreibtisch herunter, tat ein paar Schritte in den Raum hinein und wandte sich nun direkt an die drei Häßlichen hinten bei den Fenstern: »Es ist wohl abzusehen, daß das Kernproblem aller bisherigen Gesellschaften, nämlich daß sie Klassengesellschaften waren, mit dem Sieg des Proletariats gelöst sein wird. Aber ich prophezeie: Wenn die gesellschaftlichen Probleme gelöst sind, werden die biologischen Probleme um so sichtbarer werden. Und wenn die gesellschaftlichen Probleme nach moralischen Überlegungen gelöst wurden, so werden die biologischen Probleme nach ästhetischen Kriterien gelöst werden. Welchen anderen Sinn könnte das festliche Gelage, das von Anbeginn der Welt im Gange ist, haben als den, schön zu sein? Der neue Mensch, Gastgeber und Gast in einem bei diesem Fest, soll nicht nur glücklich, er muß auch schön sein!« – Hier eine Pause, in der Pontrjagin vor sich ins Leere schaute, als sähe er der Entstehung einer Fotografie in der Entwicklerlösung zu. – »Was, meine Damen und Herren, soll daraus geschlossen werden? Zu welchem Ergebnis, zu welcher Synthese drängt der biologische, der ästhetische Antagonismus? Die Antwort überlasse ich Ihnen.« – Er knickte mit dem letzten Wort in eine kaum wahrnehmbare Verbeugung und verharrte eine Weile in dieser Haltung: ein Zauberkünstler, der gerade eine beeindruckende, aber weiter nicht ernstzunehmende Vorstellung gegeben hatte.
    Die hinten bei den Fenstern waren nun am Wort. Die drei Häßlichen. Und nicht Argumente in der Sache wurden von ihnen erwartet, sondern Argumente für ihre eigene Person. – Was ist nur in diesen aufgeblasenen kleinen neuen Menschen gefahren, dachte Carl. Er wollte laut herauslachen, das schien ihm die einzig angemessene Reaktion.
    Jossif Aszaturow kam ihm zuvor.
    »Bitte!« stammelte er. »Bitte …«
    Er erhob sich von seinem Sessel, setzte sich wieder hin und stand wieder auf und setzte sich wieder, als würde in einem Film mit Charlie Chaplin vor und zurück und vor und zurück immer wieder ein Turm aus dem Boden gezaubert. Seine Lippen schlugen aufeinander, schon bevor er etwas sagte, Panik unter den Argumenten, die am wenigsten robusten wurden niedergetrampelt, aber vielleicht wäre gerade unter ihnen ein stichhaltiges gewesen, die schlagende Antwort, kurz mußte sie sein, der Ankläger darf gern lange reden, der darf sich ausbreiten, darf mit Hegel als Knüppel beweisen, daß nur das Schöne lebenswert ist, der Angeklagte darf das nicht, wer sich mit vielen Worten verteidigt, hat unrecht – und Jossif Aszaturow rief mit sich überschlagender Stimme in den Raum hinein:
    »Stalin! Ist er schön oder häßlich?«
    Und verließ stampfend den Raum.
    Lawrentij Sergejewitsch Pontrjagin wurde blaß wie Schafskäse. »Um Gottes willen«, stammelte er, »um Gottes willen, Herr Ingenieur, hier geht es doch um Ästhetik und nicht um Politik!«
    Und lief hinter Aszaturow her.
    »Mon Dieu, que nous les Russes sont infantils!« stieß Ksenia Sixarulize hervor und zerbrach ihren Bleistift. Worauf sich die Gesellschaft auflöste.
5
    Vor dem Institutsgebäude standen die Laternen so dicht beieinander, als hätte die Stadtverwaltung oder ein Politbürosonderausschuß oder wer auch immer sonst in dieser Stadt für das Licht zuständig war sich vorgenommen, eine Metapher für den Geist sinnfällig vorzuführen. Darum herum war es finster, die Straßen waren hohl und leer, keine Autos, keine Pferdegespanne. Die Straßenbahnen stellten ihren Betrieb ein, sobald es dunkel wurde. In den Fenstern der Häuser schimmerte nur wenig Licht. Es war still. Schnee fiel.
    Emmy Noether bat Carl, sie nach Hause zu begleiten. Das war nichts Außergewöhnliches. Die Dunkelheit in dieser Stadt war ihr sehr unangenehm. In den Nächten, wenn der Himmel bedeckt war und Mondlicht und Sternenlicht die Erde nicht erreichten, tastete sie sich durch die Gassen um das Institutsgebäude und an den Hauswänden entlang, bis sich ihre Augen einigermaßen an die Finsternis gewöhnt hatten. Nur halb im Spaß hatte sie einmal zu Carl gesagt, sie fürchte, plötzlich in das Gesicht eines Mannes zu greifen. Der Schnee half ihren Augen, sich zurechtzufinden; wenn er allerdings so dicht fiel wie an diesem Abend, konnte es geschehen, daß sogar die Bürger von Moskau in manchen Vierteln ihrer Stadt die Orientierung verloren. Die Brodnikov-Straße war eine

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