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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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vermochte, als wären sie mit dem »Tau des Paradieses gewaschen« – sagte Ksenia Sixarulize.
    Carl erzählte, Emmy Noether sei bestürzt gewesen über Aszaturows Häßlichkeit. Aber nicht, weil sie an seinem Schicksal besonderen Anteil nahm, sondern weil ihr drückend bewußt wurde, daß ihre eigene Häßlichkeit in Gegenwart dieser anderen nicht etwa relativiert – wie die Schönen und Normalen die Wirkung von Häßlichkeit falsch einschätzen –, sondern verstärkt wurde; daß ihr unförmiger Körper neben Aszaturows extremförmigem Körper sein Unschönes noch rücksichtsloser preisgab. Ein häßlicher Mensch neben einem schönen Menschen wird vielleicht zum Kontrast degradiert, aber weil sich durch ihn die Schönheit des anderen in gewisser Weise erst manifestiert, ja definiert, fällt ein Widerschein des Glanzes auch auf ihn. Mag sein, daß Schönheit in Schönheit untergeht, ein Häßliches jedoch macht auf ein anderes Häßliches erst aufmerksam, und am Ende erscheinen beide häßlicher als zuvor, als sie noch einzeln vor das Auge traten. – Ebendies war der Inhalt des einzigen Gesprächs zwischen Frau Professor Noether und ihrem Studenten Candoris, in dem es, über das Alltägliche hinaus, nicht um ihre geliebte Mathematik ging, sondern eben um »Persönliches«; nämlich um »die Wunden, die sie sich selbst schlage, wenn sie die Deduktionen an ihrer eigenen Person exemplifiziere« – andere Worte, um ihr Weh zu beschreiben, hatte die Doktorvaterin nicht zur Verfügung.
    Dieses Gespräch hatte eine Vorgeschichte.
4
    Etwa zwanzig Leute hatten sich an diesem Abend nach Emmy Noethers Vorlesung in Lawrentij Sergejewitsch Pontrjagins Büro versammelt. Frau Dr. Sixarulize erzählte von ihrer Arbeit. Seit über dreißig Jahren sammelte und kommentierte sie Märchen aus ihrer Heimat Georgien, aber auch aus den angrenzenden Ländern des Kaukasus, aus Armenien, Aserbaidschan, Märchen der Mingrelier, der Lazen, der Swanen, Azeri, Tscherkessen, Tschetschenen, der kaukasischen Kurden ebenso wie der mongolischen Kalmücken, der Tadschiken, Usbeken, Turkmenen, Inguschen, Osseten, Abchasen, dazu Märchen aus der Türkei und aus Persien. In unzähligen Artikeln und einem Dutzend Büchern hatte sie sich immer wieder auch theoretisch mit dem Märchen auseinandergesetzt. Und dies sei, so legte sie dar, die Quintessenz ihrer Forschung: daß es im Märchen einzig um Gewinn und Verlust gehe und daß demzufolge nur zwei Typen von Figuren auftreten – der Sieger und der Verlierer. Als wäre sie selbst einem Märchen entstiegen – gekrümmt, plötzlich, nie zu allen Anwesenden zugleich sprechend, sondern immer nur zu einem –, dozierte sie: »Alle Typen im Märchen sind dieser Dichotomie untergeordnet: die Klugen sind die Sieger, die Dummen die Verlierer, die Schönen sind die Sieger, die Häßlichen die Verlierer, die Bösen sind die Verlierer, die Guten sind die Sieger.« Das Märchen erzähle nicht von der Entwicklung einer Person – schon aus diesem Grund tauge es nicht zu didaktischen Zwecken –, sondern es liefere die Begründung für einen Zustand. »Warum ist dieser Mensch schön? Weil er ein Sieger ist. Warum ist er häßlich? Weil er ein Verlierer ist. Das Märchen kennt keine Moral.« Dem aufgeklärten Geist des frühen neunzehnten Jahrhunderts sei diese Tatsache freilich unerträglich gewesen, und so seien aus Märchen Kindergeschichten mit erhobenem Zeigefinger geworden. – Frau Sixarulize war, während sie sprach, durch den Raum gegangen, und als sie geendet hatte, sah sie sich um, und der einzige freie Sessel war hinten am Fenster, wo Emmy Noether neben Jossif Aszaturow saß. Also setzte sie sich zu ihnen.
    Nun ergriff Lawrentij Sergejewitsch Pontrjagin das Wort. Er knüpfte an die Gedanken der Volkskundlerin an und kam auf die Philosophie des deutschen Idealismus und den Begriff des Schönen bei Hegel zu sprechen; nämlich, daß das Schöne nichts anderes sei als die Idee des Schönen und daß man dies so zu verstehen habe, daß das Schöne selbst als Idee, und zwar als Idee einer bestimmten Form, nämlich als Ideal, gefaßt werden müsse. »Das Häßliche ist keine bloße Abwesenheit des Schönen, sondern eine positive Negation desselben. Was seinem Begriff nach nicht unter die Kategorie des Schönen fällt, das kann auch nicht unter die des Häßlichen subsumiert werden. Ein Rechenexempel ist nicht schön, aber auch nicht häßlich – Sie werden mir sicher recht geben, Frau Dr. Noether –, ein

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