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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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überzeugt, sie könne darin nichts anderes sehen als ein Zeichen seiner Bewunderung und seiner Zuneigung. Sie aber sagte: »Hören Sie jetzt bitte auf damit!« Und ausgerechnet sie sagte: »Kann man denn nicht ein einziges Mal den Mund halten und einfach nur auf die Natur lauschen? Mathematik ist doch bei Gott nicht alles.« Sie waren durch die Schilleranlagen gegangen (vorbei am Haus seiner Tanten), ihr Ziel war der Eulenturm gewesen, von wo aus sie über die Stadt und das Umland schauen wollten. Beim Albanitor, wo die Allee aus Eschen und Nußbäumen begann, hatte er sich noch gedacht: Wir könnten genausogut durch die Gänge des Auditoriengebäudes marschieren, sie kriegt ja gar nichts mit, nicht einen Blick nach links oder rechts gibt sie ab. Er war es doch gewesen, der vorgeschlagen hatte, hinaus in die Natur zu gehen, um unter der Sonne bei frischer Luft »Mathematik zu reden«! Die Spaziergänge waren seine Idee gewesen, gewiß nicht ihre! Jedesmal mußte er sie aufs neue dazu überreden. Und ausgerechnet sie, die sich erst vor wenigen Tagen unten beim Leinekanal von ihm hatte erklären lassen, daß eine Grasmücke nicht ein Insekt, sondern ein Vogel sei, sie behandelte ihn, als wäre er der naturfernste Stubenhocker – er , der Haubenmeise, Kohlmeise, Blaumeise, Schwanzmeise, Tannenmeise, Sumpfmeise, Beutelmeise, Trauermeise ohne geringste Mühe an ihren Stimmen auseinanderhalten, der noch immer jeden Greif am Himmel aus den Augenwinkeln bestimmen, der jeden Vogel an seinem Gelege erkennen konnte! Er war schwer gekränkt gewesen, vor allem wegen des scharfen Tons, mit dem sie ihn zurechtgewiesen hatte, und während des weiteren Spaziergangs hatte er kein Wort mehr gesagt. Und war noch schwerer gekränkt gewesen, weil sie offensichtlich gar nicht merkte, wie sehr sie ihn verletzt hatte. – Ihr Reden und sein Zuhören folgten den Regeln eines ausreichend erprobten Zusammenwirkens; in ihrem Schweigen aber mußte er improvisieren wie Siegfried im Kampf gegen den Tarnkappenträger. Ihre Rede war klar, ihr Schweigen war rätselhaft.
    An diesem Abend war es anders. Ihr Schweigen hatte Inhalt: Es war ein Vorwurf. So empfand er es. Sie stapfte durch den Schnee, betonte dabei jeden Schritt, als wäre sie das den derben Profilsohlen ihrer Stiefel schuldig. Weil er nicht protestiert hatte? Weil er Pontrjagin nicht in die Schranken gewiesen hatte? Weil er dies einem Betroffenen, Aszaturow, überlassen hatte? Weil er so weit vom Fenster entfernt seinen Platz eingenommen hatte? – Seine Kommilitonen in Göttingen hatten ihn vor allen möglichen Gefahren in Moskau gewarnt, hatten die neue apokalyptische Reiterei aus Weltjudentum und Bolschewismus an die Wand gemalt (einige rieten ihm ohne Umschweife, er solle in Moskau Frau Dr. Noether, wenn irgend möglich, aus dem Weg gehen, schließlich trage sie beide Krankheiten in sich, und was in Deutschland in Latenz gehalten werden konnte, würde in Rußland voll ausbrechen) – daß ausgerechnet ästhetische Fragen zu einer Bedrohung werden könnten, das wäre nicht einmal in den hedonistischen Studentenkreisen Göttingens jemandem eingefallen. – Vielleicht aber, so dachte er, spinne ich ja nur meine Gedanken in ihren Kopf hinein (weil er seit drei Monaten seine Muttersprache fast nur noch verwendete, um über Mathematik zu reden). Vielleicht hatte Lawrentij Sergejewitsch mit seiner Philippika sie ja gar nicht verletzt, vielleicht ist ihr sein Sermon zum einen Ohr hinein und zum anderen hinaus. Vielleicht hatte es sie sogar amüsiert. Ganz bestimmt komisch war, wie Aszaturow als sein einziges Argument den Namen Stalin genannt und damit das Heer aus hegelianischen Spitzfindigkeiten weggeblasen und den Anführer in die Flucht geschlagen hatte. Alle hatten gelacht. Am Ende lachten nämlich auch Frau Dr. Noether und Frau Dr. Sixarulize. Vielleicht sogar Pontrjagin, wenn er draußen in der kalten Luft seine Tassen erst wieder ordentlich in den Schrank gestellt haben würde. Also wäre er, Carl, der einzige gewesen, bei dem es nicht einmal zu einem Grinsen gereicht hatte? Er hatte das Gefühl gehabt, nicht in ein Geheimnis eingeweiht zu sein. Als wäre der Abend ein kindliches Spiel in der Dunkelheit gewesen. Er war kein Kind, und er konnte sehen. Aber er wußte nicht, worauf es unter all den Dingen, die ihn umgaben, ankam.
    Sie waren beim Durchgang der Bezirksparteizentrale am Vodootvodnyi-Kanal angelangt, wo die Stadtverwaltung ein weiteres Mal alle Herrlichkeit des Lichts

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