Abendland
mathematischer Punkt, der gar keine Länge und Breite hat, ist nicht schön, aber auch nicht häßlich.«
Die meisten der Anwesenden verstanden die deutsche Sprache sehr gut, doch es war wenig wahrscheinlich, daß sie den Ausführungen Lawrentij Sergejewitschs folgen konnten. Und weil auch Carl selbst Schwierigkeiten hatte, die abstrakten Gedanken in einem halbwegs vernünftigen Sinn zusammenzuhalten, fragte er sich, an wen sich die Worte des Dozenten eigentlich richteten.
»Das Schöne«, fuhr Pontrjagin fort, »bestimmt sich als das sinnliche Scheinen der Idee. Und das Häßliche? Sehen wir es uns an! Es existiert. Es existiert einfach. Aber hinter dem Häßlichen gibt es keine Idee. Es gibt kein Krebsgeschwür ohne den Menschen. Aber es gibt Menschen ohne Krebs.«
Der kleine Mann saß auf seinem Schreibtisch, die Schenkel kräftig und breit gespreizt, die graue Hose prall sitzend, mit beiden Händen klammerte er sich an die Tischplatte zwischen seinen Beinen fest, als reite er auf ihr. Den Kopf hielt er leicht schräg nach oben gerichtet. Er blickte beim Sprechen niemanden an. Es war vielleicht nicht klar, zu wem er sprach; aber es war doch jedem klar, was hier geschah: Mit den verrenkten Worten eines deutschen Philosophen des vorangegangenen Jahrhunderts wurde definiert, was Schönheit ist. Und gerade weil die Argumente und Ableitungen in ihren dialektischen Verzahnungen nicht mehr bis an ihr Ende nachvollziehbar waren für den, der diesen Jargon nicht beherrschte, erschien der eigentliche Gegenstand des Diskurses so unerbittlich deutlich, und die Verve, in der Pontrjagin sprach, veredelte Ästhetik obendrein zum Argument eines moralischen Edikts; und somit ging es nicht mehr nur um abstrakte Schönheit und ihr abstraktes Gegenteil, sondern: um schöne Menschen und häßliche Menschen.
Und da fiel es auf. Plötzlich waren die Blicke der anderen auf die drei Häßlichen hinten bei den Fenstern gerichtet: den armenischen Riesen, die georgische Hexe, die deutsche Dicke. Und es wurde still im Büro von Lawrentij Sergejewitsch Pontrjagin. Carl meinte, der einzige Zuhörer zu sein, der nicht nach hinten blickte.
»Das Häßliche«, führte der Dozent seine Rede nach einer Weile weiter und sah weiter nirgendwoanders hin als hinauf zur Decke, »erinnert das Schöne in jedem Augenblick daran, daß es eine Kategorie des Sinnlichen ist. Ohne das Häßliche würde sich das Schöne von seiner Erdenschwere lösen, und es wäre – göttlich! Oh, ich danke Frau Professor Sixarulize, daß sie zwei so wunderbar altmodische Worte wie Sieger und Verlierer gebrauchte. Ich verstehe nichts von Märchen und kann daher nicht beurteilen, ob Märchen Moral haben oder nicht. Ich möchte aber doch darauf hinweisen, daß Sieger und Verlierer, dem üblichen Sprachgebrauch folgend, moralische Begriffe sind, und zwar nicht nur, wenn Sieg oder Niederlage sich als gerecht oder ungerecht herausstellen. Ich bin Mathematiker wie die meisten von Ihnen, meine Damen und Herren, und ich denke, ebenso wie die scheinbar unüberwindlichen Schwierigkeiten, die einige mathematische Probleme seit vielen Jahren darstellen, der Tatsache geschuldet sind, daß die notwendigen Axiome noch nicht gefunden wurden, kann es doch sein, daß die Probleme bei der Bestimmung von ›Was ist schön?‹ und ›Was ist häßlich?‹ daher rühren, daß es uns bisher nicht gelungen ist – oder daß wir es noch gar nicht versucht haben –, die Ästhetik auf Axiome zurückzuführen und ihre Urteile damit einer wissenschaftlichen Prüfung auszusetzen. Ich gebe zu, die Ästhetik unterscheidet sich von der Logik wesentlich auch darin, daß letztere nie, erstere aber so gut wie immer durch Versuch am lebenden Objekt verifiziert werden muß. Wenn ich mich einmal derb ausdrücken darf: Man braucht den, der behauptet, daß eins und eins nicht zwei sei, nicht zu erschlagen, um zu beweisen, daß eins und eins doch zwei ist. Wenn ich logische Fehler eliminiere, eliminiere ich logische Fehler und mehr nicht. Deshalb ist die Logik – und nun verwende ich zum zweitenmal bereits diesen altmodischen Ausdruck – göttlich. Denn die Logik ist an keine Sinnlichkeit, keine Weltlichkeit, keine Körperlichkeit gebunden. Sie ist Idee. Reine Idee. Die Ästhetik dagegen, die Idee des Schönen muß, um sichtbar zu werden in der Welt, sich in sinnlich wahrnehmbare Gestalt verwandeln. Und nach dieser Metamorphose begegnet sie dem Häßlichen. In der blutvollen Wirklichkeit hat das Wort eliminieren
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