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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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Tabletten und Whisky dazu. Ich weiß bis heute nicht, was für Tabletten es waren. Ich hatte meine Mutter gefragt, und sie hatte mir den Finger auf die Lippen gelegt. Nicht unmittelbar nach der Katastrophe hatte ich sie danach gefragt, Jahre später erst. Gleich danach wäre die Frage verzeihlich gewesen, Jahre später war sie anscheinend kaltherzig. Tabletten waren wahrscheinlicher als Rasierklinge. Alles andere schloß ich aus. Und die junge Frau, die ihn verlassen hatte – wußte sie überhaupt davon? Vielleicht existierte sie gar nicht, vielleicht hatte er sie erfunden, um vor seiner Mutter und der Welt einen plausiblen Grund zu nennen für das, was er hatte tun wollen, weil er für den wahren Grund keine Worte finden konnte. Und wenn es gar keinen Grund gab? Vielleicht hatte ja Dagmar diese junge Frau mir gegenüber bloß erfunden; wie sie immer alle Kausalitäten erfunden hat, die in ihrer Weltsicht die Dinge miteinander verbanden, weil sie sich vor nichts mehr fürchtete als vor Schrauben ohne Muttern, Haken ohne Ösen, Geschichten, in denen Verbrechen ohne Motiv verübt wurden; weswegen sie sich auch immer der Liebe vergewissern mußte, denn für die Liebe fand sie in der Welt keinen ausreichenden Grund; und wenn wir zu lange für ihre Nerven nebeneinander auf dem Kanapee in meiner Küche in der Danneckerstraße gesessen und geschwiegen hatten, riß die kosmologische Leere in ihr auf, und sie sehnte sich nach einem die Liebe und das Etwas bestätigenden Streit, den sie, sobald er entzündet war, in jener glücklich unbekümmerten Ausgelassenheit betrieb, die der von ihr gepriesene, aber, trotz zwanzigbändiger Suhrkampausgabe im Regal, höchstens hauchweise rezipierte Georg Wilhelm Friedrich Hegel »den Sonntag des Lebens« nennt, »der alles gleichmacht und alle Schlechtigkeit entfernt«. Das hatte ich in meinem früheren Leben nicht begriffen: daß für Dagmar Streiten ein Akt der Reinigung war, aber nicht in dem Sinn, wie ihn die Illustriertenpsychologen ihren Lesern raten, sondern ein blutiger, mystischer Ritus zur Wiederherstellung von Unschuld. Und plötzlich stand so deutlich wie die Gegenwart eine Szene vor mir: Dagmar und ich, nebeneinander auf dem Teppich in meiner Küche in der Danneckerstraße, die Hände auf der Brust gefaltet, die Augen zur Zimmerdecke gerichtet, und wir hören Bellinis Norma . Ich war eben erst aus Innsbruck zurückgekehrt, wohin ich nach unserem alles Bisherige hoch übertrumpfenden Acht-Stunden-Streit geflohen war, weil ich mir von Margarida und Carl Ezzes holen wollte. Dagmar wußte und ich wußte: daß wir zu weit gegangen waren. Und wir ahnten, daß wahrscheinlich etwas unheilbar verletzt worden war, etwas, das uns beiden gehörte, ohne das wir in Zukunft zwar anstandslos unsere Tage hinter uns bringen konnten, aber doch nur jeder für sich allein. Ich hatte sie vom Bahnhof aus angerufen, hatte gesagt, ich sei zurückgekommen, hatte gefragt, ob sie mich sehen wolle. »Komm zu mir«, hatte sie gesagt. Und dieses Wort hatte mich berauscht wie eine Lossprechung. Ich war zu Fuß vom Bahnhof nach Sachsenhausen gegangen, weil ich meine Gefühle sortieren wollte, um ihr innerlich einigermaßen gewaschen und gekämmt gegenüberzutreten. Ich war übermüdet und in einem derart labilen, überempfindlichen Zustand, daß mich jede beliebige Gewöhnlichkeit zum Jauchzen oder zum Weinen hätte bringen können – Blumenkästen mit verdorrten Geranien, ein Smiley-Aufkleber auf dem Kotflügel eines Kinderrades, die Goldbrosche an der Bluse einer alten Dame, ein Verkehrspolizist, der mit dem Rücken zur gleißenden Märzsonne sein Jausebrot auspackte. Dagmar hatte in der Zwischenzeit eine Knoblauchpaste angerieben und auf Weißbrot gestrichen und die Scheiben ins Rohr geschoben und den Tisch gedeckt und eine Flasche Wein entkorkt und pro forma auch neben meinen Teller ein Glas gestellt, im Hof einen Efeuzweig von der Wand gerissen und als Schmuck über den Tisch gelegt, und sie hatte Kerzen angezündet und das weinrote, knöchellange Kleid mit den aufgenähten schwarzen Spitzen an Ausschnitt und Bünden angezogen. Ich klingelte an meiner Tür, und wir trauten uns nicht, uns zu umarmen. Wir trauten uns nicht einmal, allzu höflich zueinander zu sein; sie dachte, ich dachte, der andere werde allzu auffällige Höflichkeit als der Ungeheuerlichkeit unseres Streits nicht angemessen empfinden. Wir aßen still. Schließlich berührten wir einander im Gesicht, so schüchtern, als wäre dies die

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