Abendland
den deutschen Kolonien in Ostafrika und Südwestafrika sowie aus Neuguinea und dem chinesischen Kiautschou. Außerdem eine unter der Staubschicht gerade noch als blau erkennbare Ausgabe der Werke von Fritz Reuther, acht Bände über Österreich-Ungarns Außenpolitik von 1908 bis 1914, Lloyd Georges Anteil am Weltkrieg in drei Bänden und Thomas Edward Lawrence’s Die sieben Säulen der Weisheit . Mir schauderte bei der Vorstellung, daß hier auch eine vergriffene Ausgabe einer Biographie über Arthur Seyß-Inquart, verfaßt von einem gewissen Sebastian Lukasser, stehen könnte. Ich betrat den Laden. Hinter dem brusthohen Tisch in der Mitte, den Bücher wie eine Festungsmauer umrundeten, thronte der Besitzer. Nicht anders als bei meinem letzten Besuch vor zehn Jahren trug er einen grauen Arbeitskittel, und wie damals blickte er mir ohne jedes Interesse direkt in die Augen. »Was kostet die Rommel-Ausgabe?« fragte ich. »Die ist zu teuer«, sagte er. »Danke«, sagte ich und ging. Ich spazierte weiter, zum Apollokino hinauf, wo auf der Plakatwand unter dem lachsfarbenen Türmchen Bruce Willis im Profil zu sehen war, er war The Unbreakable , der Mann, dessen Knochen auch zwischen verkeilten Eisenbahnwaggons nicht brechen (der Mann, »der nicht blutet, wenn man ihn sticht«). Gegenüber, auf der Steintreppe vor dem Haus des Meeres, das in dem gigantischen Betongrabstein eines Flak-Turms untergebracht ist, saßen Ostertouristen und ließen sich von ihrem Führer das weitere Vorgehen erklären. Weit oben über den Balustraden, auf denen am Ende des WK 2 die Kindersoldaten hinter ihren Kanonen gesessen und auf die amerikanischen Flugzeuge geschossen hatten, hatte ein Künstler in dreimannshohen Lettern geschrieben: SMASHED TO PIECES (IN THE STILL OF THE NIGHT) In diesem Moment drehten sich die Touristen um und blickten hinauf zu der Inschrift. Der Führer nützte die Gelegenheit, sich eine Zigarette anzustecken und sich die Hände am Hosenboden abzuwischen.
Nach einer halben Stunde trat ich wieder zu David und Robert an den Tisch. Sie fragten mich nicht, wo ich so lange geblieben war.
4
Nachmittags.
»Also dann«, sagte David, und ich sagte: »Bitte, bleib doch noch!«
Für einen Augenaufschlag, so bildete ich mir ein, war Rührung in seinem Blick; er stellte den Fuß auf den Rucksack und schaute zu Boden. Seine Rührung hatte dem »Bitte« gegolten; wenn ich ihn aber noch einmal bitte, dachte ich, wird er gehen, weil er sich aufgefordert sieht, Standfestigkeit zu beweisen. Es fiel mir schwer, es nicht zu tun.
»Es ist ein bißchen komisch zwischen uns«, sagte er.
Ich entschied mich, weiter zu schweigen.
»Rauchst du eigentlich?« fragte er.
»Gelegentlich.«
»Rauchen wir eine oben auf dem Dach«, sagte er. »Dort gefällt es mir.«
Er hatte auf dem Weg vom Café herunter gefragt, ob ich ihm Geld borge, er habe keine Zigaretten mehr. Mit borgen, so hatte ich gedacht, wird er vermutlich schenken meinen, es könnte aber auch sein, daß er mir das Geld tatsächlich zurückgeben will, und das hieße, er rechnet damit, daß wir uns wiedersehen. Aber als wir oben auf dem Dach vor meinem Arbeitszimmer standen, die Unterarme auf das Geländer gestützt, und in den Innenhof hinunterschauten, kam wieder nichts zustande. Jedes Räuspern legte ich mir zur Deutung vor; wie er den Rauch aus der Nase ziehen ließ; daß er die Zigarette nicht wie ich zwischen Zeigefinger und Mittelfinger, sondern zwischen Daumen und Zeigefinger hielt; wie er mit zugekniffenen Augen, den Mund zu einem O zusammengezogen, den Kopf im Nacken, über die Dächer sah. Selbst aus seinen Händen versuchte ich etwas zu lesen, markant geäderte Hände, erwachsene Männerhände. (Meine Hände waren mir nie erwachsen vorgekommen, bis sie auf einmal alt waren.) Ich müßte an sein Es-ist-ein-bißchen-komisch-zwischen-uns anschließen, dachte ich, aber mir fiel nichts anderes ein als ebenderselbe Satz, und den wollte ich nicht sagen, es wäre gewesen, als schöbe ich die Verantwortung für das Gespräch an ihn zurück, was ich an seiner Stelle nicht anders denn als Desinteresse interpretiert hätte. Mir fiel nichts ein, was sich vernünftig, und nichts, was sich zärtlich anhören würde. Er meint, er muß kämpfen, ist aber kein Mensch, der an Kämpfen Spaß hat. Tabletten? Pulsader? Es wäre grob gewesen, Dagmar gestern in der Nacht danach zu fragen; aber es war mein erster Gedanke: Wie hat er es angestellt? Sein Großvater hatte es mit Tabletten gemacht.
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