Abendland
auch zwei Jahre nach der Tat niemand mit Bestimmtheit zu sagen. Die Kommentatoren bezeichneten Brigitte Mohnhaupt als jene Terroristin, die das Kommando (»Kommando Siegfried Hausner«, wie sich die Entführer in ihrem Bekennerschreiben nannten) geleitet hatte. Sie sei, hieß es, in bürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen, habe ihr Abitur in Bruchsal mit Auszeichnung bestanden, habe in München studiert und sich aus Empörung über den Vietnam-Krieg der USA und die Notstandsgesetze der BRD sowie die Tatsache, daß immer noch NS-Richter hohe Funktionen ausübten, der radikalen Linken zugewandt und schließlich mit Baader und den Seinen Kontakt aufgenommen. »Eine Frau Kohlhaas ohne Pferde«, die der Nation erklären wollte, was Gerechtigkeit ist, und überzeugt war, sie tue das »in Assoziationen und Bildern, die dieser Nation vertraut waren« – wie ein bekannter Psychoanalytiker und Pädagoge in einem sympathisierenden Essay schrieb. Das dauernde Erwähnen des ausgezeichneten Abiturabschlusses löste Unbehagen in mir aus – und sicher nicht deshalb, weil ich selbst mit Auszeichnung maturiert hatte –; es schien Abraham Fields’ These zu belegen, daß die Deutschen in tiefst versteckter Wahrheit stolz auf ihre Terroristen seien; nicht weniger stolz als auf ihre ehemaligen Nazis – um Himmels willen nicht wegen deren Morde, sondern weil diese Morde, wie sollte es bei einer so überlegenen Kulturgemeinschaft auch anders sein, von höchst intelligenten Männern und Frauen geplant und zum Teil auch von denselben durchgeführt worden waren; jedenfalls fehle bei Charakteristiken der SS selten der Hinweis, in ihren Spitzenpositionen hätte sich die intellektuelle Elite des Landes getroffen. An einem Nachmittag im Central Park haben Abe und ich über dieses Thema gesprochen, das heißt, er hat mir ausführliche, sokratische Fragen gestellt, die ich kurz, meist nur mit ja oder nein, beantwortete. Bei dieser Gelegenheit sagte er: »Wenn ich Deutsche von der Dämonie der Nazis reden höre, spüre ich hinter der Entrüstung eine alte Begeisterung, und ich denke mir, sie huldigen noch immer dem romantischen Genius des Bösen und fühlen sich allen anderen Bösewichte produzierenden Nationen überlegen, weswegen Hannah Arendts Begriff von der Banalität des Bösen bis heute von vielen als Spielverderberei empfunden wird – und auch wenn sie es nicht aussprechen, meinen sie doch jüdische Spielverderberei.« Und genauso sehe man es nun wieder: Junge überintelligente, überernsthafte, überunbestechliche, übersensible Frauen und Männer waren hier am Werk – ein Werk, das schlecht war, nicht weil es schlecht war, sondern weil es im Übermaß gut war –, überhochmoralische Pastorentöchter, am vergessenen Heimkinderelend zerbrechende Zeitschriftenkolumnistinnen und ausgezeichnete Abiturientinnen, denen allen positiv angerechnet wurde, daß sie ihre Taten aus Verzweiflung über die Taten ihrer Väter begingen – kaum ein Kommentar, in dem nicht darauf hingewiesen wurde, daß Hanns-Martin Schleyer ein hoher Nazi-Studentenfunktionär und ein Zuarbeiter von Gestapo- und SD-Chef Reinhard Heydrich gewesen war (der, wie ich irgendwo gelesen hatte, so intelligent gewesen sei, daß er die gesamte Planung der Olympiade 1936 in seinem Kopf zusammengehalten habe). Tatsächlich waren diese Assoziationen und Bilder der Nation vertraut wie dem Christen die Kreuzwegstationen Jesu. Ich gebe zu, ich habe anfänglich mit der RAF sympathisiert, ihre Mitglieder hatten sexy Frisuren, waren schlank und lässig, hätten ohne Verkleidung in einem französischen Gangsterfilm oder, nur wenig verkleidet, in einem Sergio-Leone-Western mitspielen oder, in Vierer- oder Fünfergruppen aufgeteilt, als Rockbands auftreten können. Der Idealismus, die höhere Idee, die Bereitschaft, sich für diese Idee zu opfern, und, aus dieser Selbstlosigkeit abgeleitet, das Recht, auch andere dafür zu opfern, all das hat mich jedoch gelangweilt und befremdet. Mich faszinierte der individuelle Anarchismus à la Raskolnikow oder Kirillow (oder Martin Rottmeier alias Maro), der sich weniger mit der Frage quälte, ob man einen chinesischen Mandarin, der Tausende Kilometer entfernt nutzlos vor sich hin lebt, mit einem Knopfdruck töten darf, wenn dadurch Millionen anderer Menschen in unmittelbarer Nähe das Leben lebenswert gestaltet werden kann, sondern der schlicht ein Naturrecht der starken Persönlichkeit postulierte, an die andere moralische Maßstäbe anzulegen
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