Abendland
seien als an den Querschnitt von Millionen. Diese ideologiefreie, pur egozentrische Gewalt erhob mein literarisches Herz und ließ es schneller schlagen; sie glaubte ich in einem Typen wie Andreas Baader verkörpert; die Weiber und weibischen Männer um ihn herum stellten die unvermeidlichen Mänaden dar, die kannten wir aus der Umgebung des Gottes Dionysos und des Feldherrn Alexander des Großen, sie waren bei Marcus Antonius aufgetreten, bei Lykurg, Solon, Mohamed, Tschingis Khan bis hin zu Napoleon, John F. Kennedy, Mao Tse-tung und waren noch anzutreffen in der Strand-Buggy-Streitmacht der Hippievariante Charles Manson. Brigitte Mohnhaupt gehörte auch zu denen. Ich selbst hatte mich zeitweise als ein Aspirant gefühlt, als ein Pentheus, der sich gern eingeschlichen hätte, um wenigstens zuzusehen. Abe hatte mich mit einem einzigen Satz ein für allemal von dieser Blödheit geheilt: »Wenn man sogar bei ›Du sollst nicht töten!‹ nachdenken muß, haben moralische Maßstäbe jede Verbindlichkeit verloren.« Und er hatte mit unerbittlicher Freundlichkeit weiter ausgeführt: Er würde ja gern glauben, daß es in der Seele des Menschen sich widersprechende Prinzipien gebe, die einander korrigieren, mildern und läutern, aber seine Erfahrung lege leider die Vermutung nahe, daß die menschliche Seele nur ein Prinzip kenne, nämlich die Gier, und daß Gerechtigkeit, Milde und Maß mühsam gegen die Seelennatur errichtete Bastionen des Verstandes seien, weswegen der Ratschlag, man solle auch jenseits von rein privaten Angelegenheiten auf sein Herz hören, in seinen Ohren nicht zart und verschwärmt, sondern immer wie eine Kriegserklärung gegen alles Menschliche geklungen habe. Meine Formulierung, der individuelle Anarchismus eines Andreas Baader erhebe »mein literarisches Herz«, hatte ihn fuchsteufelswild werden lassen – »Was an diesem Mann für den Nimbus eines greifbaren Heldentums gehalten wird, ist nichts anderes als die Achselausdünstung eines simplen Kriminellen!«; und entschuldigte sich sofort, daß er so viele Adverbe und Adjektive verwende. – Nach diesem Gespräch im Central Park stand für mich endgültig fest, daß ich nicht Carls Ratschlag folgen, daß ich nicht über Arthur Seyß-Inquart eine Dissertation schreiben werde …
»Sie kann mich brauchen«, flüsterte Chucky und betonte dabei zischend jedes Wort.
»Das kann ich nicht beurteilen«, gab ich in der gleichen Tonlage zurück. »Aber noch einmal: Was hat das mit mir zu tun?«
»Ich weiß, daß sie auf jemanden wie mich wartet.«
»Und warum willst du ausgerechnet mit mir darüber sprechen?«
Er ignorierte einfach meine Fragen. »Das sind alles gescheite Köpfe, das sehe ich«, redete er weiter. »Vielleicht können sie es mit den Händen aber nicht so gut. Für das, was sie machen, brauchen sie Autos. Ich weiß alles über Autos. Ich kann aus einem VW einen Rennwagen machen. Wenn das gebraucht wird. Ich kann jedes Schloß aufmachen. Ich habe zwei Erste-Hilfe-Kurse besucht. Ich war der Beste. Es graust mich nicht vor der Mund-zu-Mund-Beatmung, auch nicht, wenn derjenige gekotzt hat. Ich kann tapezieren. Ich kenne mich mit allem Elektrischen aus. Ich habe beim Steinbruch unten in Hohenems beim Sprengen geholfen. Technisch bin ich eins a.«
»Das weiß jeder hier, Chucky«, sagte ich. »Aber ich bin der falsche Mann. Ich kann dir nicht helfen, und ich kann denen nicht helfen. Und ich will ihnen auch gar nicht helfen.« Ich spürte, daß ich mich zu eifrig erklärte, daß ich dadurch Distanz verlor und in Verdacht geriet, selbst nicht zu glauben, was ich da redete.
»Ich zeig dir etwas«, sagte er. Er zog seine Brieftasche heraus und entnahm ihr ein Zeitungsbild, schwarzweiß, das er mit durchsichtigem Klebstreifen überklebt hatte, so daß es aussah wie in Streifen lackiert. »Erkennst du sie?«
»Ich kenne das Bild von den Fahndungsplakaten«, sagte ich.
Er strich mit dem Daumennagel darüber. »Ich mag ihr Gesicht gern, weißt du.« Er sprach nun noch leiser und aus dem Mundwinkel, seine Ohren glühten. »Ziemlich breit ist es. Das mag ich gern. Den schmalen Gesichtern geh ich aus dem Weg. Ich habe noch nie eine Frau gesehen, die so ein breites Gesicht hat. Und die Haare. Gerade Haare, und das Gesicht völlig frei. Es gibt nichts zu verbergen. Und warum nicht? Ich kann diese Frage beantworten. Die anderen ziehen sich die Haare vors Gesicht. Die Männer bleiben unrasiert. Und schau her, ihre Haut ist fein. Siehst du, wie fein sie
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